„Früher war alles schwarz-weiß, heute ist es bunt“
Nah dran an den Schneverdingern, die zum Einkauf den Famila-Markt betreten, sind Juliane Averdung (von links), Lernbotschafter Uwe Boldt, Silvia Ehrke vom Mehrgenerationenhaus und Stefan Wälte mit ihrem Infostand des Alfa-Mobils, um für das Thema .... zu sensibilisieren. Foto: sus
Jeder achte Erwachsene in Deutschland hat große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Manche können einzelne Buchstaben lesen und schreiben, andere Betroffene Wörter oder einfache Sätze. Die Leo-Studie von 20218 zählt 6,2 Millionen Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren, über 62 Prozent davon sind erwerbstätig und für mehr als 50 Prozent ist Deutsch die Herkunftssprache. Doch noch immer liegt über diesem Thema oft ein großes Tabu und es ist sehr schambehaftet.
Einer, der dieses Gefühl und die Strategien, das Thema zu überspielen, gut kennt, ist Uwe Boldt. „Mir braucht keiner einen Trick oder Kniff zu zeigen. Die kenne ich alle schon.“ Lange Jahre hat er unter anderem als Kranführer im Hamburger Hafen gearbeitet. Lesen und Schreiben hat er erst im Erwachsenenalter gelernt. „Für mich ist dadurch alles schöner geworden. Früher war alles schwarz-weiß, heute ist es bunt.“ Hinter ihm läge ein „langer, anstrengender Weg und mit vielen Barrikaden“, sagt er. Bis Boldt sich Hilfe holte, gingen Jahre ins Land. „Ich habe erst mal gearbeitet“, berichtet der Lüneburger.
Die erste Anlaufstelle war sein Hausarzt. Nach einer Zwischenstation lernte Boldt an schließlich der Volkshochschule, für ihn damals ein „rotes Tuch.“ „Trotzdem bin ganz froh darüber, dass ich das so gemacht habe. Schreiben kann ich zwar immer noch nicht richtig, aber dafür habe ich das Lesen besser erlernt.“ Er engagierte sich viele Jahre beim DGB-Projekt Mento, das direkt in die Betriebe ging, und war in einem Unternehmen kollegialer Ansprechpartner für das Thema Lesen und Schreiben. „Es ist schon schön, den Leute zu zeigen, dass es Hilfe gibt und sie nicht allein sind.“
Als Lernbotschafter begleitet Boldt seit vielen Jahren ehrenamtlich das Alfa-Mobil, um anderen Betroffenen zu helfen und ihnen Mut zu machen. So auch am Mittwoch, als das Mobil nach 2018 wieder Station in Schneverdingen macht. Da es vor dem Famila-Markt aufgrund des Wetters doch etwas ungemütlich war, konnte das Alfa-Mobil-Team aus Boldt, den beiden Wissenschaftlichen Mitarbeitern Juliane Averdung und Stefan Wälte vom Standort Münster und Silvia Ehrke vom Mehrgenerationenhaus drinnen im Eingangsbereich den Stand aufbauen.
Für Wälte ist es der perfekte Standort, weil er zwischen Bäcker und Kassen sehr nah an den vorbeilaufenden Menschen dran ist. Er ist seit neun Jahren beim Alfa-Mobil. Bis sein Professor ihn für die Masterarbeit auf das Thema lenkte, hatte der Erziehungswissenschaftler im Bereich Weiterbildung, Erwachsenenbildung keine Berührung damit gehabt. So kann er auch gut jeden nachvollziehen, dem es heute so geht.
Wälte bemerkt einerseits eine positive Entwicklung, andererseits weiterhin viele Vorurteile gegen Betroffene, etwa die Unterstellung von Faulheit. Dabei kommen viele, die berufstätig sind ein, sogar zwei Stunden eher zur Arbeit, damit sie den Tag so vorbereiten können, dass ihre Schwäche nicht auffällt. So setzen sich aus Angst, entdeckt zu werden, aber auch zusätzlichem Stress aus, was bis zum Burnout führen kann. „Als ich angefangen habe, war die Scham noch größer. Es ist inzwischen leichter, darüber zu reden. Aber es ist wirklich noch immer ein dickes Brett zu bohren. Denn die schönste Werbung erreicht die Leute nicht. Wir müssen immer um die Ecke denken bei dem Thema. Die Scham ist weiterhin sehr groß.“
An Betroffene heranzukommen ist schwer
„Es gibt immer mehr Angebote, aber wir kommen so schwer an die Betroffenen heran und dafür stehen wir heute hier“, erklärt Averdung. „Wir sprechen auch das mitwissende Umfeld an, Personen, die hier reinkommen. Man sieht es ja niemanden an, ob er betroffen ist oder nicht. Wir versuchen, dass wir in Erinnerung bleiben und ins Gespräch zu kommen.“
Die Parkscheibe sei dabei oft ein Eisbrecher. „Viele sagen, die bräuchte ich auch mal wieder.“ Mit etwas Glück liegt sie über Jahre mit der Info zum Hilfetelefon im Auto herum. „Es braucht immer so seine Zeit und auch Frustrationstoleranz. Vielleicht geben wir heute die Impfung, und erst in einem halben Jahr hat die Person wieder Mut und geht hin.“
Das Alfa-Mobil startete 2015 als Pilotprojekt und ist seitdem deutschlandweit unterwegs, um gemeinsam mit Kooperationspartnern vor Ort für geringe Literalität zu sensibilisieren und in der aufsuchenden Beratung die Angebote der Bildungsträgern vor Ort zu bewerben. Am Alfa-Mobil-Infostand wird der Kontakt sowohl zu Betroffenen direkt als auch zum mitwissenden Umfeld gesucht.
Manchmal sind es tatsächlich Betroffene, die sie direkt ansprechen. „Dann ist es immer viel wert, wenn wir jemanden wie Uwe dabei haben. Wir können noch so viel erzählen. Jemand, der selbst diesen Weg gegangen ist, kann es besser. Das macht den Menschen auch unheimlich Mut. Viele fühlen sich einfach hilflos und alleingelassen, trauen sich jahrelang nicht, etwas zu sagen.“ Betroffene versuchen, Situationen, in denen sie lesen und schreiben müssen, zu vermeiden oder anders zu lösen. Sie übersehen häufig schriftliche Informationen wie Behördenbriefe, Rechnungen oder Sicherheitshinweise.
Jedes Jahr seit 2018 hat Ehrke vom MGH als Kooperationspartner vor Ort versucht, das Mobil wieder in die Heideblütenstadt zu bringen. „Aber sie waren so voll, dass es dieses Jahr einfach zum ersten Mal wieder geklappt hat.“ Für viele Menschen in Schneverdingen, deren Herkunftssprache Deutsch ist, sei die Hürde noch sehr hoch, anderen Menschen davon zu erzählen, so Ehrke. Das Café Hand in Hand ist dann der erste Anlaufpunkt im MGH. „Man kann einfach kommen, einen Kaffee trinken und Kekse essen, die Menschen kennenlernen und ein Gefühl für das Haus bekommen, alles ganz niedrigschwellig.“
Zukunft des Alfa-Mobils ist ungewiss
„Wir versuchen, alles abzudecken, wo wir noch nicht waren“, erklärt Averdung. „Es ist super, dass wir dieses Jahr wieder hier sind. Es hat sich auf jeden Fall viel getan. Es gibt ein gutes Angebot hier im Mehrgenerationenhaus.“ Ende 2024 war das Alfa-Mobil-Projekt aufgrund der allgemeinen Haushaltslage von finanziellen wie personellen Kürzungen betroffen. Fuhr das Mobil vergangenes Jahr noch über 100 Stationen an, sind es dieses Jahr nur noch 85.
„Wir laufen auch nur noch dieses Jahr, hoffen aber natürlich, dass es irgendwie weiter geht“, so Averdung. Die Zukunft des Mobils ist ungewiss, bis die neue Bundesregierung steht. „Davon ist abhängig, wie viel Geld in die Grundbildung fließt, wie die Gelder verteilt werden, ob es überhaupt noch ein Förderschwerpunkt für die Regierung sein wird. Unseres Erachtens ist es eine Aufgabe, die immer da sein wird, die nicht einfach so verschwindet.“ Es werde immer Menschen geben, die Schwierigkeiten haben mit dem Lesen und Schreiben. Im Zeitalter von KI und Digitalisierung werde zudem viel mehr mit Sprach-Apps und Bild-Apps gearbeitet. „Für viele Betroffene ist es ein Vorteil. Aber viele entfernen sich dadurch auch immer mehr vom Thema Sprache.“