Vom kleinen Tagebau zum größten Giftloch
Anläufe gab es viele. Echte Ergebnisse lange, viel zu lange nicht. Warum muss immer alles so ewig dauern, fragt sich auch Christine Meyer-Dittrich aus Breloh. An dem Lebensalter ihrer Tochter kann sie ihr eigenes Engagement für die Umwelt in ihrem Heimatort ablesen. Vor 40 Jahren kämpfte sie erstmals in der Bürgerinitiative für sauberes Grundwasser in Munster, da war die Tochter noch ein Baby.
In den nächsten Wochen startet die Beseitigung einer der schlimmsten Altlasten der Ära, die vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland begann, als auf dem Gebiet der heutigen Stadt Munster chemische Kampfmittel hergestellt, erprobt und gelagert wurden. Der Dethlinger Teich wurde im und nach dem Zweiten Weltkrieg zur Abfallgrube der Militärs, heute spricht man vom wohl giftigsten Loch Deutschlands. Alleine 30 000 Granaten werden darin vermutet, chemische Kampfmittel wie Lost, Phosgen und Tabun, in größerer Tiefe vielleicht auch Bomben. Man weiß es trotz einer Probebohrung nicht genau. Wie ein Überraschungsei sei der Dethlinger Teich, hatte kürzlich der Landkreis-Umwelttechniker Carsten Bubke dem hiesigen Bundestagsabgeordneten Lars Klingbeil erklärt. Fünf Jahre sind für die Räumung zunächst vorgesehen.
Für Meyer-Dittrich ist der Start der Sanierung nur ein Zwischenerfolg: Das, was man aus dem Loch ausgräbt, müsse alles noch geräumt werden, die Kampfstoffe vernichtet, abgepumptes Grundwasser und ausgegrabene Erde und Bauschutt gereinigt, der Schrott entsorgt. Und auf dem Truppenübungsplatz Munster-Nord liege das giftige Erbe noch immer im Boden, gibt täglich Arsen in das Grundwasser ab. Das ist das, was auch Julia Weigelt umtreibt. Die Journalistin mit dem Fachgebiet Sicherheit recherchierte vor mittlerweile mehr als acht Jahren für die Böhme-Zeitung das Thema des giftigen Erbes, das das Grundwasser in Munster verseucht. „Auch wenn der Dethlinger Teich geräumt ist, ist die Gefahr nicht gebannt“, sagt sie heute. Bei anderen Gebieten auf dem Truppenübungsplatz Munster-Nord, wo die Altlasten breitflächig verteilt sind, sollte bei der Geschwindigkeit der Entsorgung aufs Gas getreten werden. „Das Gebiet ist ebenfalls komplett verseucht.“
Ihre Recherche als freie Journalistin im investigativen BZ-Auftrag hat das Thema aus dem Fast-Vergessen wieder an die Öffentlichkeit geholt, innerhalb einer dreiteiligen Serie im Januar 2015 spürte sie dem giftigen Erbe aus gut 100 Jahren nach. Und plötzlich bekam das Thema eine Dynamik, vor allem, als bekannt wurde, dass niemand mehr prüfte, ob und welche toxische Fracht vom Dethlinger Teich ins Grundwasser gelangt. Die Überwachung des Grundwassers war eingestellt worden, 2008 bereits. Insbesondere in Munster will man davon nichts gewusst haben. Wenige Wochen nach der Artikelserie präsentierte der Landkreis ein erstes Konzept zur Sanierung des Teiches mit einem Zeitplan.
Dabei hatte es vorher jahrzehntelang nicht geklappt. Auch nicht, als die Bürgerinitiative sich 1989 gründete, Meyer-Dittrich mit gut 15 Mitstreitern das Thema Rüstungsaltlasten in Munster präsent machten. Einmal gab es in den 1990er-Jahren sogar eine Demonstration. 250 Menschen zogen durch die Stadt und forderten auf Plakaten vom Bund endlich zu handeln, äußerten Ängste um ihre Kinder. Doch die sieben Jahre Arbeit waren zermürbend, schon damals zu langwierig, zu schwierig, zu frustrierend, Meyer-Dittrich fand nach ihrer Auffassung zu wenig Rückhalt im politischen Raum, bei Behörden von Kommune bis Bund. Der Protest scheiterte auch an der Gleichgültigkeit der meisten Munsteraner, erklärte ihr Mitstreiter, der Soltauer Dietrich Wiedemann, der sich bei den Grünen engagiert und lange im Kreistag saß, Anfang 2015 in der BZ-Serie.
Eine Herausforderung war die Recherche ebenso für die Fachjournalistin Weigelt. Nicht nur, weil sie sich intensiv damit beschäftigte, welche schlimmste Folgen der Gifteinsatz für Menschen hat, wie Kinder aussehen, wenn sie Senfgas eingeatmet haben, zudem erinnert sie sich an eine unübersichtliche Menge an Zuständigkeiten und an die Widerstände. In der Stadtverwaltung, weil man nicht Touristen und die wenigen Investitionen vergraulen wollte. „Es gab keine großartige Begeisterung“, erinnerte sie sich auch mit einem gewissen Verständnis. „Aber verschweigen hilft eben auch nicht.“ Beim Landkreis, weil der einen schlechten Job insbesondere hinsichtlich der Überwachung des Teiches gemacht hatte. Bis dahin bei Bund und Land nicht, weil man die Übernahme der Kosten scheute, die Verantwortlichkeit hin und her schob.
„Ungläubiges Staunen und die Reaktion: Da kann man eh nichts machen“, schilderte 2015 Meyer-Dittrich der Böhme-Zeitung ähnliche Abwehrhaltungen. Wiedemann erzählte, dass der Bürgerinitiative auch schon mit einer Strafanzeige gedroht worden sei, zu groß sei die Sorge gewesen, die Stadt müsse für die Sanierung selbst Geld in die Hand nehmen.
Die Recherchen damals gingen zunächst um die mit chemischen Kampfmitteln verseuchten Flächen auf dem Truppenübungsplatz Munster Nord, nachdem es dort 1919 eine gewaltige Explosion gegeben hat. Schwerpunkt bildete schließlich bei der Berichterstattung der Dethlinger Teich, eine ehemalige Kieselgurgrube. Lange dachte man, dass die Kieselgurhülle das Wasser halte, nur im oberen Bereich das eingelaufene Wasser verschmutzt werde und wieder austrete. Man sprach von einer Art schiefen Tasse. Später stellte sich bei den Untersuchungen der Wissenschaftler des Helmholtz-Instituts heraus, dass die Tasse auch im Untergrund nicht dicht ist.
Schon im dritten Teil der Serie stand für den Munsteraner und SPD-Bundestagsabgeordneten Lars Klingbeil fest, dass man über die C-Waffen-Altlasten eine Diskussion anstoßen müsse. Diese nahm schneller als erwartet Fahrt auf: Zwar sitze man nicht auf einem Pulverfass, so erklärte im Januar 2015 der damalige Landrat Manfred Ostermann, aber insbesondere Munsteraner Bürger machten schon im Februar bei einer Podiumsdiskussion der Böhme-Zeitung den Verantwortlichen in Stadt und Landkreis klar, dass das Thema nicht wieder in der Versenkung verschwinden kann. Kurz drauf legte die Kreisverwaltung einen Zeitplan für die Sanierung vor.
Nicht ganz ein Jahr nach der Berichterstattung drehte Fachjournalistin Weigelt das Thema weiter und stellte „viel Bewegung in Sachen Dethlinger Teich“ fest. So wurden Messungen angeschoben und Klingbeil meldete, dass der Bund auch auf seine Initiative einen Sondertopf für die Altlastensanierung in einer Größenordnung von 60 Millionen Euro für das Haushaltsjahr 2016 zur Verfügung stellen wollte. Im Februar 2016, bei einer erneuten Podiumsdiskussion, machten die Munsteraner noch einmal deutlich, dass sie nicht interessiere, wer für welches Problem zuständig sei, sondern dass etwas getan werden muss. Gut zwei Jahre nach der ersten Berichterstattung, im Februar 2017, wurde vertraglich vereinbart, dass das Land Niedersachsen und der Heidekreis gemeinsam 2,9 Millionen Euro in die Probeöffnung des Teiches investieren. Mitte September 2019 bis Ende März 2020 fanden die Arbeiten statt. Nun steht unter einem gewaltigen, mit allen Sicherheitsvorkehrungen gespickten Zelt die Gesamträumung des Dethlinger Teiches an. Start sollte eigentlich schon in dieser Woche sein, die Arbeiten verzögern sich noch etwas. Die letzte Kostenschätzung für die Baumaßnahme liegt bei 85,5 Millionen Euro. „Es ist super, dass der Teich jetzt geräumt wird“, sagt Weigelt. Gut findet sie, dass das Projekt heute ganz anders gesehen wird: Statt zu schweigen, sei Deutschland damit in der Altlastenvernichtung nun weltweit Vorreiter. Dennoch plädiert sie dafür, andere verseuchte Gebiete nicht zu vergessen.
Alternative zur Ostsee
Der sogenannte Dethlinger Teich war früher ein kleiner Tagebau. Dort wurde Kieselgur gewonnen, ein feiner Schlamm, der unter anderem zum Filtern von Bier, als Anstrich oder in Papier benutzt wurde. Als das Kieselgur-Vorkommen erschöpft war, wurde der Abbau eingestellt, und die große Grube, die sich auf einer Fläche von rund 7000 Quadratmetern erstreckt, lief voll Wasser. In diesen Teich warfen im Zweiten Weltkrieg deutsche Truppen oder Arbeiter Kampfmittel, wahrscheinlich Abfälle oder mangelhafte Chargen aus der nahen Waffenproduktion. Nach dem Krieg versenkten die Briten Munition aus den Lagern der Umgebung in dem Teich; wahrscheinlich vor allem defekte Bomben und Granaten, die nicht an die Ostsee transportiert werden konnte, wo die Alliierten große Mengen deutscher C-Waffen und konventioneller Munition ins Meer warfen. Weil die Munsteraner Bürger nach dem Krieg auf der Suche nach Metall auch in der gefährlichen Giftbrühe des Teichs fischten, wurde er mit Bauschutt der nahegelegenen Munitionsanstalt Oerrel und Mutterboden abgedeckt.