Was der Immenhof mal war
Haus Druhwald, Iserhatsche und auch die Ruinen des Immenhofs haben einen ähnlichen kulturhistorischen Ursprung. „Zur Jahrhundertwende waren Landsitze in Mode“, verweist Hützels Ortsvorsteherin Marietta Hemmerle auf wohlhabende Großstädter dieser Epoche, die sich den Traum eines repräsentativen Fluchtpunkts im Grünen verwirklichen wollten. Die Lüneburger Heide war prädestiniert für solche Vorhaben. Nah dran an der reichen Kaufmannsstadt Hamburg, doch weit weg vom Trubel und Lärm der Metropole. Das Verhältnis zwischen den Städtern, die die Idylle suchten, und der Landbevölkerung, die den nicht immer beschaulichen bäuerlichen Alltag lebten, war stets kompliziert.
Der Hamburger Jurist Dr. Wylly Goetze, der 1910 in Hützel auf erworbenen Heidegrund ein geräumiges Reetdachhaus bauen ließ, hielt jedoch nicht viel von Standesdünkel und Klassenunterschieden. So jedenfalls schildert es Wolfgang Roth-Bernstein, Jahrgang 1919, in seiner Immenhof-Chronik. Der Autor, von 1956 bis 1982 Leiter der Immenhof-Schule, zitiert aus einem Prospekt der Pension, die Goetze in Hützel in Betrieb nahm, rückblickend betrachtet die Keimzelle des späteren Kinder- und Jugendheims. In der Immenhof-Herberge „soll es keinen Unterschied geben durch Beruf, Weltanschauung oder Konfession“, steht im Prospekt. Willkommen seien Gäste, „die den Sinn mitbringen für die ernsten Aufgaben des Lebens und die Sehnsucht nach dem tieferen Zusammenhang der Dinge“.
Ein hoffnungsvoller Anfang, der bald an den großen Krisen der Zeit zerschellte. Erster Weltkrieg und Inflation ließen Goetze verarmen, das Immenhof-Gelände ging 1927 fast komplett an die Arbeiterwohlfahrt (Awo). Ideell knüpfte die Awo indes in gewisser Weise an die Ideale des Philanthropen Goetze an. Unter dem damals revolutionären Motto „Erziehung ohne Mauern“ entstand auf dem Immenhof ein Erziehungsheim, zunächst für 40 „gefährdete Mädchen“ überwiegend aus Hamburg und Berlin sowie 20 „erholungsbedürftige Kleinkinder“.
Heftige Ablehnung konservativer Kreise
Ein modern anmutendes pädagogisches Experiment, das „in konservativen Kreisen auf heftige Ablehnung stieß“, wie es der Chronik zu entnehmen ist, „auch in der Bevölkerung von Hützel“. Die anwachsende nationalsozialistische Bewegung hetzte gegen das liberale Erziehungsideal der Jüdin Hanna Grunwald-Eisfelder, die den Immenhof bis 1931 leitete und später auf der Flucht vor den Nazis in die USA emmigrierte. Im Dritten Reich wurde die Awo aufgelöst und alle ihre Einrichtungen beschlagnahmt. Der Immenhof wurde zum Erholungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, eingezäunt mit Stacheldraht. Im Zweiten Weltkrieg entstand dort ein Lazarett, Teile davon überdauerten die Naziherrschaft. „Es gibt noch heute Menschen, in deren Personalausweis als Geburtsort Hützel eingetragen ist“, weiß die Ortsvorsteherin. Die kamen auf der provisorischen Entbindungsstation des Immenhofs zur Welt, die in den Nachkriegsjahren vor allem Gebärende aus dem zerstörten Hamburg aufnahm. Der in dieser Zeit dort tätige Frauenarzt Vincent Stuhler hat später die Gynäkologie im Kreiskrankenhaus Soltau mit aufgebaut.
1948 bekam die Awo den Immenhof zurück und setzte den Heimbetrieb fort. Es begann eine Zeit, an die manche Ältere noch Erinnerungen haben. Der Immenhof bemühte sich um eine Öffnung zum Dorf hin. Die nationalsozialistische Propaganda hallte nach, man wollte Vertrauen aufbauen. Zum Beispiel mit offenen Filmabenden und ab den 1970-er Jahren einer Kita, in der Kinder aus dem Ort betreut wurden. Doch der Ruf als reformpädagogisches Vorzeigeprojekt ging mit der Zeit verloren. Im Trend lagen kleinere, individueller ausgerichtete Einrichtungen. Die Kosten pro Heimplatz auf dem Immenhof waren hoch, der Personalaufwand groß. Erzieher lebten mit den Kindern und Jugendlichen zusammen. Ein aus heutiger Sicht nicht unproblematisches Konzept.
Die Belegungszahlen sanken in den 1980-er Jahren kontinuierlich, die Awo-Chefs in Bonn verloren das Interesse an dem Projekt. Es gab Gespräche, engagierte Betreuer reisten von Hützel in die Bundeshauptstadt, weil sie ahnten, was kommen wird. Verhindern konnten sie es nicht. 1990 wird das Kinder- und Jugendheim dicht gemacht, zwei Jahre später das weitläufige Gelände mit allen Gebäuden verkauft. „Die haben das einfach meistbietend verscherbelt“, klagt Ortsvorsteherin Hemmerle. Der Immenhof rottet seitdem vor sich hin und produziert regelmäßig negative Schlagzeilen. Zuletzt drohte er als Ergebnis einer Zwangsversteigerung ausgerechnet einer rechten Gruppierung in die Hände zu fallen, was angesichts des emanzipatorischen Anspruchs des historischen Immenhofs eine bittere Pointe gewesen wäre.
Vor dem Tod noch einmal den Immenhof sehen
Was bleibt, sind tiefe Spuren, die der Immenhof im Leben vieler Menschen hinterlassen hat. Auf Ehemaligentreffen ging es in der Vergangenheit sehr emotional zu. Hemmerle schaut aus einer anderen Perspektive auf den Immenhof, als Bewohnerin des von der Einrichtung ebenfalls geprägten Dorfes. Besonders eindrücklich ist ihr die Begegnung mit Erna Krüger in Erinnerung. Eines Tages in den späten 1990-er Jahren hatte sie die damals bereits hochbetagte Berlinerin unverhofft am Telefon. Die Dame wollte ein Zimmer in der kleinen Pension buchen, die Hemmerles Familie im Ort betreibt. Der Grund ihrer Reise ließ Hemmerle aufhorchen. Sie wollte, bevor sie starb, noch einmal den Immenhof sehen.
So kam es, der neue Eigentümer gestattete einen Rundgang über das Gelände mit den damals noch nicht so stark verfallenen Gebäuden. „Wir waren in der Küche, in der sie Kochen gelernt hat“, erinnert sich Hemmerle. Die Aufnahme in den Immenhof als junges Mädchen in den frühen 1930-er Jahren sei für sie eine Befreiung gewesen, erzählte die Frau aus schwierigen familiären Verhältnissen. Selbstbewusster kehrte sie mit Anfang 20 zurück nach Berlin und lebte fortan ein freieres Leben, als es Frauen aus einfachen Verhältnissen in dieser Zeit üblicherweise vorbestimmt gewesen ist. Die Berlinerin verdankte dem Immenhof viel. Nun sah sie sich die Ruinen an und fragte nach Heideflächen, die es längst nicht mehr gab. „Dann fuhr sie wieder fort, glücklich und ein bisschen enttäuscht.“