Corona-Proteste werden radikaler und regionaler
Konspirativ geht es zu auf den Telegram-Kanälen der örtlichen Impfgegner und Corona-Verharmloser. „Alles weitere dann auf anderen Wegen, die Gruppe hier ist immer noch offen“, beendet „Lichtbringer“ am Heiligabend eine allzu konkrete Diskussion um den genauen Zeitpunkt des nächsten „Spaziergangs“ der Szene in Soltau. Der Unbekannte mit dem esoterisch klingenden Tarnnamen gehört zur kleinen Gruppe der „Corona-Rebellen Heidekreis“. Etwas größer präsentieren sich auf Telegram die „Freiheitsboten“ aus Walsrode. Grüppchen wie diese sind zuletzt überall in Deutschland entstanden.
Verfassungsschutz: Corona-Proteste verlagern sich in Kleinstädte
Die Proteste gegen Corona-Maßnahmen haben sich nicht nur radikalisiert, sondern auch regionalisiert. Der Trend ließ sich als erstes in Sachsen beobachten, wo die „Querdenken“-Bewegung, befeuert durch die AfD, besonders stark ist. Inzwischen breitet er sich aus – und das ist nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes kein Zufall. „Es gibt Hinweise, dass bekannte Einzelpersonen, Rechtsextremisten und Gruppen eine Strategie wie in Sachsen nachahmen und die Proteste raus aus den Großstädten in die Kleinstädte verlagern“, erläuterte Jörg Müller, Leiter der brandenburgischen Verfassungsschutzes, jüngst gegenüber dem „Tagesspiegel“.
Auch in Niedersachsen prahlt die Bewegung inzwischen lieber mit der Vielzahl der Ortschaften, in denen Proteste stattfinden, als mit den oft bescheidenen Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen. Beim Messenger-Dienst Telegram präsentiert die Gruppe „Freie Niedersachsen“, die es auf fast 18.000 Abonnenten bringt, stolz eine je nach Blickwinkel beeindruckend oder erschreckend lange Liste mit Filmsequenzen und Bildern aus allen Winkeln des Bundeslandes, darunter auch verschiedene Orte im Heidekreis. Mal flackern Kerzen vor verschlossenen Rathaustüren in Munster, mal marschieren Bürger in Soltau, überwiegend ohne Sicherheitsabstände und Mund-Nase-Bedeckungen, durch dunkle Straßen.
Drohende Impfpflicht: Selbststilisierung als Opfer
Wie sehr sich Teile der Querdenker-Bewegung radikalisiert haben und in die Ecke gedrängt fühlen, lässt sich beim Betrachten eines auf Telegram geteilten Clips aus Soltau erahnen. Während eines Protest-Spaziergangs hält ein Demonstrant eine Kerze in die Handy-Kamera. Darauf zu sehen: eine bedrohlich wirkende, rot durchgestrichene Spritze und „§ 32“. Es ist offenbar eine Anspielung auf das Notwehrrecht, geregelt im Paragrafen 32 des Strafgesetzbuches. „Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig“, steht dort. Sich selbst zum Opfer zu stilisieren, um Regelverstöße und Gewalt als Notwehr zu legitimieren, ist ein gängiges rhetorisches Mittel extremistischer Gruppen unterschiedlichster politischer Ausrichtung. Wie weit manche Corona-Leugner dabei zu gehen bereit sind, illustriert jenseits des Internets ein in Soltau aufgetauchtes Faltblatt. Dieses vergleicht den Druck auf Ungeimpfte und eine mögliche Impfpflicht schamlos mit der Judenverfolgung im Dritten Reich.