Generation Corona: Keine andere ist wie sie
Wie sehr prägt es junge Menschen, wenn sie ihre biografisch prägendsten Jahre unter Coronabedingungen verbringen – ohne große Reisen, ohne Partys, ohne Campusleben? Sozialwissenschaftler nehmen die Generation Corona unter die Lupe: Wird sie genauso kosmopolitisch und reisefreudig sein wie ihre Vorgänger – oder treten sie den Rückzug an ins kleine Glück, das manche schon spöttisch als aufziehendes Corona-Biedermeier bezeichnen?
Ein Forschungsteam um den Professor Dr. Michael Corsten vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim untersucht aus generationssoziologischer Perspektive, wie die Generation Corona mit der neuen Unsicherheit, ihren ungewissen Zukunfsaussichten, umgeht. Das Forschungsteam sucht dafür bundesweit nach Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern im Alter von 18 bis 30 Jahren. Interessenten können sich online anmelden. Durchgeführt werden qualitative Interviews. Dabei handelt es sich um eine spezielle Form der wissenschaftlichen Befragung.
Im Interview mit der Böhme-Zeitung spricht Professor Corsten über die soziologische Einordnung der Generation Corona und den tiefen Riss zwischen ihr und früheren Jahrgängen.
Der Begriff „Generation Corona“ lässt mich an die 68-er denken: Das Jahr der Revolte drückte denen für ewig seinen Stempel auf. Wird es den heute jungen Menschen mit Corona ähnlich ergehen?
Professor Dr. Michael Corsten: Ich glaube, mit der Generation Corona wird es eher so sein wie bei Generationen, die sich im Kontext von Kriegen oder Weltwirtschaftskrisen gebildet haben. Das waren abrupte Zäsuren, die auch zeitlich einander nahe Altersgruppen ganz unterschiedlich erfuhren. Die einen hatten noch bestimmte Entwicklungen durchlaufen, die anderen standen unter veränderten Vorzeichen vor ganz neuen Herausforderungen.
Die Coronazeit soziologisch mit Kriegszeiten zu vergleichen, beschreibt einen gewaltigen Bruch.
Ich würde es als welthistorische Zäsur bezeichnen, vergleichbar mit dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus oder dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Gesellschaften weltweit reagieren ähnlich auf die Pandemie, mit mehr oder minder scharfen Kontaktbeschränkungen. Dadurch wird insbesondere das Zeitregime der modernen Ökonomie tangiert. Zukunftsplanung wird radikal ungewiss. Das trifft alle, die junge Generation aber doppelt. Sie steht in der Phase der Adoleszenz vor gehäuften biografischen Übergängen. In dieser Kette von Übergängen kann sie nicht auf etwas aufbauen, auf das sie sich mittelfristig verlassen kann.
Heißt das, die Globalisierung, wie wir sie kannten, als Epoche des „größer, schneller, weiter“, wird ausgebremst?
Die Verlangsamung einer linearen Beschleunigung wäre die einfachste Vorstellung davon. Noch wichtiger ist, dass Zeitflexibilität und -koordination betroffen sind. Weil Prozesse nicht mehr so gut durchgeplant werden können, sind Zeittakte nicht mehr aufeinander abgestimmt. Die Störung der Abstimmungsprozesse ist wirtschaftlich verheerend und tangiert die globalen Lieferketten.
Fehlende Planbarkeit tangiert auch das Sicherheitsempfinden.
Ja. Das ist das, was auf individueller Ebene passiert.
Gerät so auch der Megatrend Individualisierung unter die Räder?
Es gibt verschiedene denkbare Szenarien. Es könnte eine noch stärker prekarisierte Individualisierung geben, wenn die Zumutungen der Pandemie voll auf das Individuum übertragen werden. Wir haben Gegenbewegungen, in denen sich das Individuum auf staatliche Institutionen verlässt. Der Wohlfahrtsstaat versucht, Sorge zu tragen, er benutzt das Zauberwort der Solidarität und fordert uns auf, zusammenzuhalten. Wer vorübergehend seinen Betrieb schließt oder in Kurzarbeit geht, wird vom Staat unterstützt. Diese Solidarisierung kann vom Individualisierungsdruck entlasten. Was die Frage der Zukunftsplanung angeht, könnte man noch eine dritte Form finden. Ich nenne es mal gedehnte Individualisierung auf Widerruf, die im Sinne eines Schwellenzustands existiert. Biografische Provisorien werden zwischengeschaltet.
In der Studie „Generation Corona“ geht es um den Einfluss der Pandemie auf junge Erwachsene. Dazu finden bundesweit Erhebungen statt. Liegen bereits erste Erkenntnisse vor?
Es gibt Beispiele, die sich genau in diesem Bereich des biografischen Verschiebens von Entscheidungen und Findens von Zwischenlösungen abspielen. Diese Tendenz lässt sich schon heute beobachten. Was wir noch nicht sehen können, sind die langfristigen Folgen dieser Verschiebung.
Denkbar wäre eine Generation, die sich, auch wegen eingeschränkter Reisemöglichkeiten, weniger kosmopolitisch empfindet. Droht ein Rückzug?
Prinzipiell ist es möglich, dass eine voll digitalisierte Generation über virtuelle Kommunikation an der Globalisierung teilnimmt. Aber es ist interessant, was wir bei ausländischen Universitäten beobachten: Die nehmen derzeit keine Präsenzstudenten aus Deutschland auf, bieten ihnen aber ein Online-Studium an. Doch da weichen Studierende oft zurück und entscheiden, ihr Auslandsjahr lieber zu verschieben. Ich würde nicht sagen, dass das schon der totale Rückzug auf eine nationale oder provinzielle Existenz ist. Man hat das Internationale gewissermaßen noch im Gepäck, kann nur zurzeit die Gelegenheit nicht wahrnehmen. Die Frage ist: Wird das Gepäck im Lauf der weiteren Entwicklung ganz über Bord geworfen, oder folgt später alles umso intensiver? Vielleicht werden wir auch eine nachholende Generation erleben.
Es scheint, dass individualisierte Gesellschaften wie die USA mit der Pandemie überfordert und uniformeren Staaten wie China unterlegen sind.
Ja, das sagen mir meine Kollegen aus der Kulturphilosophie auch (lacht). Da ist sicher was dran. Rücksichtnahme fürs Kollektiv fällt Gesellschaften leichter, in denen Regelbefolgung einen hohen Stellenwert genießt. Wir haben während der ersten Corona-Welle auch recht diszipliniert Regeln befolgt. Jetzt wird man sehen, ob das noch einmal funktioniert. Vielleicht ist das der Haken in westlichen Gesellschaften: Es gelingt nur einmal. Wir werden nie so radikale Lockdowns machen können, wie es in einigen asiatischen Ländern, die stark durch kollektive Identitätsbildung geprägt sind, möglich gewesen ist.
In der zweiten Welle droht gesellschaftliche Spaltung
Auch in der Flüchtlingskrise gab es anfangs viel Solidarität, dann kippte die Stimmung. Erleben wir ein Déjà-vu?
Die zweite Welle steht stärker vor der Herausforderung einer möglichen gesellschaftlichen Spaltung. Viel hängt davon ab, ob man zu einer einheitlichen Regelungsstruktur zurückkehrt oder bei der dezentralen Struktur bleibt. Die Politik scheint uneins, das macht die Situation unübersichtlich. Da kann passieren, was ich im Deutschlandfunk „moralische Panik“ genannt habe: Wenn eine Herausforderung nicht gemeinsam bewältigt werden kann fängt man an, Schuldige zu suchen. Das können wir im Moment am wenigsten gebrauchen.
Macht gemeinsame Krisenbewältigung eine Gesellschaft resilienter?
Ich hatte in den letzten Monaten den Eindruck, dass die Politik eine Stärkung erfährt, weil Prozesse nicht mehr zentral, sondern aus Regionen und Kommunen gesteuert werden. Jetzt sieht es so aus, als ob das nicht mehr reicht. Aber es bleibt die Erinnerung, dass ein dezentrales System, das aus den Regionen operiert, einen Beitrag zur Pandemiebewältigung leisten kann. Das stärkt die regionale Perspektive und ist auch für den Heidekreis bedeutsam.