Agil auf hoher See
Die ersten drei Tage der Sommerferien habe ich zu einer kleinen Familienreise genutzt – und schon im Zug musste ich bei meiner (Kurz)-Urlaubslektüre direkt an die Arbeit denken. In meinem Buch ging es um den Philosophen und Ökonomen Otto Neurath und sein bekanntes Zitat: „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ Neurath zielte mit dieser Metapher auf das Leben und seine stetigen Entwicklungen ab – und hat damit aber auch ziemlich gut die Situation beschrieben, in der sich Redaktion und Verlag der Böhme-Zeitung seit einigen Jahren befinden.
Das Schlagwort „Agiles Arbeiten“ kam bei uns vor rund zehn Jahren erstmals auf. Die Prozesse, die es beschreibt, sind dafür verantwortlich, dass bei der Böhme-Zeitung wenig so geblieben ist, wie es zuvor war. Als wir uns für eine Arbeit im stetigen Wandel entschieden, war das Agile Arbeiten nicht mehr brandneu: Bereits Februar 2001 hatte sich eine Gruppe von Softwareexperten in der Wasatch-Bergkette in Utah getroffen. Sie diskutierten und debattierten einige Tage lang und verfassten schließlich gemeinsam das Agile Manifest. In der Softwareentwicklung verbreiteten sich die Prinzipien schnell, in der Verlags- und Zeitungsbranche sind sie dagegen bis heute vergleichsweise unbekannt.
Natürlich sind Journalisten keine Softwareentwickler, und die Parallelen der beiden Berufsfelder drängen sich auch nicht gerade auf. Dennoch lassen sich die Erkenntnisse, denen die Leitsätze des Manifestes zugrunde liegen, letztlich auf jede Art des Arbeitens und des kollegialen Miteinanders übertragen. Interessant dabei ist, dass die Pioniere des Agilen Arbeitens Menschen aus der Praxis waren. Keine Projektmanager, CTOs oder Vizepräsidenten, sondern Entwickler, Programmierer, Wissenschaftler und Ingenieure. Deshalb gilt die Agilität auch als Graswurzel-Arbeiterbewegung: Sie begann mit den Praktikern vor Ort und wurde nach oben ins Management getragen.
Doch zurück zu den Grundsätzen des Manifests und zu der Frage, was sie mit Journalismus zu tun haben. Hier sind vor allem der erste und der vierte Grundsatz interessant. Der erste lautet: Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen. Dieser Satz lässt sich so ziemlich auf jeden Bereich anwenden, in dem Menschen miteinander arbeiten, natürlich auch auf eine Redaktion. Prozesse sind wichtig, zumal dann, wenn sie gemeinsam entwickelt und vereinbart worden sind. Doch sie sind niemals in Stein gemeißelter Selbstzweck, individuelle Stärken (und auch Schwächen) der Kollegen sowie die Zusammenarbeit im Team sind grundsätzlich zuerst zu berücksichtigen. Sie sind die Basis von allem.
Reaktion auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans, heißt es im vierten Grundsatz. Die Zeitungsbranche ist vielleicht nicht ganz so schnelllebig wie die Welt der Softwareentwickler. Aber auch die Medienwelt ist seit Jahren im Umbruch, natürlich wegen der Digitalisierung, aber auch wegen eines veränderten Leseverhaltens der Menschen, das mindestens so viel mit der Individualisierung der Gesellschaft wie mit deren technischer Entwicklung zu tun hat. Auf diese Veränderungen gilt es zu reagieren. Nicht mit einem großen Masterplan, der für fünf oder zehn Jahre ausgelegt ist, sondern Tag für Tag. Natürlich braucht auch ein Zeitungsverlag eine Strategie, die die grundsätzliche Richtung vorgibt. Wie diese letztlich erreicht werden kann, gilt es immer wieder zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren. Das Prinzip Planen, Ausprobieren, Reflektieren und Anpassen ist der eigentliche Kern des Agilen Arbeitens.
Immer wieder mal haben wir uns in den vergangenen Jahren gewünscht, unser „Schiff“ Böhme-Zeitung in Ruhe an einem Dock zerlegen und neu errichten zu können. Doch wir vollziehen diesen Kultur- und Strukturwandel wie bei Otto Neuraths Schiff „auf offener See“, im täglichen Produktionsprozess. Das ist mitunter anstrengend, aber es ist letztlich der beste Weg, auf die Herausforderung zu reagieren, die eine Gesellschaft im Wandel an uns stellt.