Ein weißer Fleck in der Zeitung

Das „Schrecklichste“ für einen Schreiber ist „das leere Blatt Papier“, hat Ernest Hemingway einmal gesagt, er meinte damit die Leere vor dem Schreiben und die damit verbundene Herausforderung. Für den Journalisten (der Hemingway ja auch mal war) ist das Schrecklichste allerdings das leere Blatt Papier nach dem Schreiben beziehungsweise nach dem Druck. Wenn man morgens die Zeitung aufschlägt und auf einen leeren weißen Fleck blickt.

Es ist schon ein paar Monate her, dass ich morgens die Böhme-Zeitung aus dem Briefkasten fischte und beim ersten Kaffee einen kleinen Kontrollblick über die Seiten schweifen ließ, und genau das erlebte: Auf einer Seite klaffte in der linken Spalte unübersehbar eine Lücke, die am Vorabend beim finale Redigieren noch nicht dort gewesen war. Zum ersten und hoffentlich einzigen Mal in dem Vierteljahrhundert meines Journalistenlebens hatten wir die Zeitung scheinbar nicht vollgekriegt, so konnte zumindest der Leser vermuten. In Wahrheit verhielt sich das Ganze natürlich etwas anders. Ohne ins technische Detail zu gehen: Die betreffende Meldung war in der Endkorrektur auf der Seite noch korrekt platziert, aufgrund einer fehlenden Verknüpfung verschwand die Datei anschließend von der Bildfläche.

Warum ich das alles noch einmal erzähle? Weil es für mich ein besonders bemerkenswertes Beispiel war für einen Umgang mit Fehlern, um den wir uns seit einiger Zeit im Arbeitsalltag bemühen. Denn auch wenn es nicht falsch war, dass wir uns am Folgetag bei unseren Leserinnen und Leser mit dem Verweis auf ein technisches Problem entschuldigten, so spielte natürlich auch der Mensch eine entscheidende Rolle bei diesem Fehlerprozess, schließlich hatte niemand die fehlende Verknüpfung bemerkt und entsprechend auf sie reagiert.

Es hatte sich also für uns als Zeitungsredaktion der denkbar peinlichste Moment ereignet. Normalerweise ist das eine Situation, in der das übliche Programm abläuft: Aus den anderen Abteilungen gibt es den einen oder anderen hämischen Spruch. Von den Kollegen im Redaktionsteam gegenseitige Vorwürfe, warum, wer wann nicht aufgepasst hat. Und von oben gibt es einen auf den Deckel. An diesem Morgen geschah allerdings nicht dergleichen.

In unserer 9-Uhr-Runde stellten wir uns zwar sehr wohl die Frage: Wie konnte das passieren? Aber nicht mit dem vorwurfsvollen Unterton, mit dem man diese Frage gerne an den vermeintlich Schuldigen richtet, sondern ganz sachlich in dem Sinne: Wo war der Fehler im Prozess und wie stellen wir ihn ab? Und das war auch das einzige, was ich von den Kollegen aus anderen Arbeitsbereichen und „von oben“ gefragt wurde: Wisst ihr, woran es lag? Und könnt ihr es ändern?

Vor ein paar Jahren war ich auf einer großen Journalisten-Tagung in Hamburg. In einem der Hauptbeiträge arbeitete sich der Literaturwissenschaftler und Mäzen Jan Philipp Reemtsma an dem Begriff Fehlerkultur ab. Das sei so ein neumodisches Wort, das überall Hochkonjunktur habe, auch in Redaktionen, kritisierte Reemtsma. Er lehne das ab, ihm sei lieber, man mache keine Fehler und pflege eine Kultur des Richtigen. Reemtsma erntete dafür viele Lacher und noch mehr Applaus. Ich habe damals nicht geklatscht, und ich glaube heute mehr denn je, dass Reemtsma Unrecht hatte mit seinem Bonmot (das vielleicht auch nur ein Kalauer war).

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Fehler ärgern uns. Dieser Fehler mit der leeren Meldung hat mich im ersten Moment maßlos gewurmt. Selbstverständlich ist es unser Anspruch, unseren Lesern eine fehlerfreie Zeitung zu bieten. Aber: Wenn Fehler passiert sind, werden sie für den Leser nicht weniger ärgerlich, wenn in der Redaktion Vorwürfe und Ausflüchte aufeinanderprallen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass es der Vermeidung künftiger Fehler dienlicher ist, die Sache zu analysieren als Sündenböcke zu attackieren. Zumal ein wichtiger Punkt für das Abstellen von Fehlern ehrliche Selbstkritik ist. Und die fällt nun einmal erheblich leichter, wenn man weiß, dass einem nicht der Kopf abgerissen wird, wenn man zugibt, dass man Mist gebaut hat.

Wie kürzlich an dieser Stelle erwähnt, blicken wir in allen Arbeitsbereichen des Verlags regelmäßig in sogenannten Retros auf die vergangenen Wochen zurück, darauf, was gut war und was nicht. Die wichtigste Voraussetzung bei jeder Retro ist die oberste Direktive, die besagt, dass jeder zu jedem Zeitpunkt nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Dieser Grundsatz gilt nicht nur im Ritual der monatlichen Rückschau, er gilt immer. Er bedeutet nicht, dass keine Kritik geübt werden darf (im Gegenteil, gerade in den Retros geht es nicht selten hoch her). Er bedeutet aber, dass es immer um die Sache geht, dass der Mensch niemals als Person angegriffen werden darf.

Die oberste Direktive hat übrigens auch Eingang in unsere journalistischen Leitlinien gefunden: Wir gehen davon aus, dass jeder, über den wir schreiben, zu jedem Zeitpunkt nach bestem Wissen gehandelt hat. Das bedeutet nicht, dass wir Fehler nicht thematisieren und Fehlverhalten kritisieren, denn dann hätten wir unseren Beruf verfehlt. Es bedeutet, dass wir den gesellschaftlich und politisch Handelnden grundsätzlich gute Absichten unterstellen und sie respektieren. Dass es bei der Kritik immer um die Sache geht und nie gegen den Menschen. Dass wir trotzdem genau hinsehen. Denn Fehler machen wir alle, und nicht alle sind so auffällig wie ein weißer Fleck in der Zeitung.

Stefan Grönefeld