Immer freitags mit Erich Kästner im Youze: Deutschunterricht am Gymnasium Soltau mal anders

Gemeinsam mit dem Autor Erich Kästner und seinem „Fliegenden Klassenzimmer“ machen sich die Sechstklässler des Gymnasiums Soltau auf eine spannende Reise. Unterstützt werden sie dabei von Professorin Dr. Winnie-Karen Giera (von links), Annette Fitzen, Franziska Fröhlich und Youze-Mitarbeiter Jan Heckendorf. Foto: at

Franziska Fröhlich trägt nicht nur einen besonderen Nachnamen. Sie vermittelt selbst auch jene Fröhlichkeit gepaart, mit großem Engagement, die es braucht, um Kinder fürs Lernen zu begeistern. Schon im vergangenen Jahr hat die Lehrerin für die 5. Klassen in einer Zeit, wo der Schulwechsel eher ängstigt, die Arbeitsgemeinschaft „Read out“ am Soltauer Gymnasium ins Leben gerufen. Laut vorgelesen wird dabei nicht nur in den AG-Räumen, sondern Kindergärten, in der Bibliothek oder im Seniorenheim. Gibt es eine Vertretungsstunde, wird darin nicht etwa die Zeit abgesessen, sondern sie ist jetzt Lesestunde.

Und im Gegensatz zu den pessimistisch stimmenden Ergebnissen hat Franziska Fröhlich festgestellt: Die Mädchen und Jungen können inzwischen nicht nur gut vorlesen, sondern mit ihrer Stimme wirksam umgehen, sie anders einsetzen. Sie hätten durch das intensive Training des Vorlesens auch im Unterricht viel mehr Selbstbewusstsein gewonnen. „Lesen ist bei uns en vogue.“

Diese Erfahrungen und eine Idee von Annette Fitzen von der Stiftung Kinder seid Kinder hat nun ein Jahr später ein weiteres besonders Deutsch-Projekt Wirklichkeit werden lassen. Immer freitags sind die Schülerinnen und Schüler einer 6. Klasse im Jugendzentrum Youze zu Gast und absolvieren dort geballt ihren Deutschunterricht der Woche.

Niemand will den Youze-Tag verpassen

Das klingt erschlagend, ist aber alles andere als das. Die Mädchen und Jungen sind frei in der Gestaltung des Unterrichts, können alleine oder in Gruppen arbeiten, sich intensiv mit ihren Aufgaben beschäftigen. Sie haben so viel Spaß, dass niemand den Youze-Tag verpassen will. Im Mittelpunkt des seit den Herbstferien laufenden Projekts steht Erich Kästners Buch: „Das fliegende Klassenzimmer.“

Im diesem Kästner-Jahr zum 125. Geburtstag und 50. Todestag und mit Blick auf Soltaus „Fliegendes Klassenzimmer“, das über dem Spielmuseum thront, hatte Annette Fitzen die Idee, das Buch ins Zentrum einer Schulaktion zu stellen – und mit Lehrerin Fröhlich gleich eine Mitstreiterin: „Wir haben uns gesucht und gefunden.“

Ja, das Kästnerbuch, so erklärt Fitzen, die auch als Autorin arbeitet, stamme aus einer anderen Zeit, habe aber noch immer einen aktuellen Inhalt. Es geht um Freundschaft, um den Kampf gegen Armut, um Mutproben, um Familie. Die Rahmenhandlung bilden verfeindete Schüler aus dem Internat und einer benachbarten Realschule. Um sich zu ärgern, gibt es die verrücktesten Streiche. Als die Realschüler die Diktathefte der Gymnasiasten klauen und dabei den Schüler Rudi gefangen nehmen, hört der Spaß auf. „Werte wie Würde, Ansehen, Respekt und Zusammenhalt bilden den Kern der Geschichte“, erklärt Fitzen.

Sie spendierte über ihre mit ihrem Mann geführte Stiftung zunächst für alle Schülerinnen und Schüler die Bücher. Über die Herbstferien wurde fleißig gelesen, viele Stellen wurden markiert. Denn in den freitäglichen Deutschstunden ging es zunächst darum, Handlung und Personen herauszuarbeiten, sagt Fröhlich. Im weiteren Verlauf suchten sich die Mädchen und Jungen Abschnitte aus, die sie nun umschreiben und sprachlich in die heutige Zeit holen. Die sie aber auch szenisch mit Mitschülern gestalten und in der Realität verankern. „Am Anfang waren sie eher gehemmt, weil sie Respekt vor dem Autor hatten, sich nicht trauten, seine Worte zu ändern“, erzählt Fitzen.

Organisation des Deutsch-Freitags ist eine Herausforderung

Dabei war die Organisation des besonderen Freitagsunterrichts im Youze im Rahmen des üblichen Schulalltags des Gymnasiums nicht nur für die Stundenplanerstellung eine Herausforderung, so Pädagogin Fröhlich. Auch galt es den Lehrplan zu beachten. Daher hat sie das 6.-Klassen-Thema, einen Bericht zu schreiben beispielsweise über einen polizeilichen Vorfall, mit der Ganzjahreslektüre gekoppelt. Dafür musste die Fachkonferenz ihr Okay geben: Jetzt finden die vier Deutschstunden der Woche sowie eine Klassenleiterstunde freitags statt, mit angepassten Pausenzeiten und vielen Spielmöglichkeiten im Youze. „Da sind wir komplett gut aufgestellt. Wir erreichen hier ein Wir-Gefühl, das es in der Schule nicht geben kann. Auch leisere Schüler, die in einem Diktat vielleicht nicht so gut sind, können sich beweisen und selbstständig sein. Es ist wie eine Klassenfahrt, bei der man viel erlebt."

Sieben Schülergruppen haben sich im Youze gebildet. Manche bearbeiten ihre ausgesuchten Abschnitte des Buches auch alleine, wie die elfjährige Leni und ihre Freundin Lotti. Lotti hat sich die Buchstelle ausgesucht, in dem die Diktate geklaut werden, und sich überlegt, wie dieser Überfall überhaupt vonstattengegangen sein könnte. Denn das steht in Kästners Buch nicht. Daraus entwickelt sie eine Art kleines Theaterstück: Und sie hat aus dem gekidnappten Rudi eine Reni werden lassen: „Sonst wären es alles nur Jungs. Aber ich möchte auch gerne mitspielen", sagt das Mädchen. Insgesamt findet sie das Buch an manchen Stellen sehr spannend, an anderen sei es langweilig oder sogar traurig.

Leni hat sich eine Textstelle vorgenommen und schreibt sie in die heutige moderne Form um. Statt eines Kampfes zwischen den beiden Schulen gibt es nun eine Verhandlung, wie es heutzutage wohl eher der Fall wäre. Ob daraus eine szenische Lesung werden wird oder ob sie ihr Werk alleine präsentiert, das weiß Leni noch nicht. Bis zum Ende des Projekts gibt es noch zwei Deutschunterricht-Freitage. Am Dienstag, 17. Dezember, wollen die Sechstklässler um 15 Uhr im Dachgeschoss der Felto-Filzwelt ihre Interpretation des Kästner-Klassikers den Familien, aber auch jedem anderen Interessierten vorstellen. Dann werde es erneut darum gehen, die eigene Stimme einzusetzen, stark zu sein, Präsenz zu zeigen, „was wiederum die eigene Haltung widerspiegelt“, findet Fitzen.

Anja Trappe