„Wir brauchen viele kleine Leute für den Frieden"
Der Soltauer Pastor Gottfried Berndt hat über Jahrzehnte immer wieder Israel besucht und unter anderem viele Menschen aus dem Heidekreis und darüber hinaus zu Studienreisen in das Land eingeladen. In der Osterzeit dieses Jahres war er zuletzt dort und hat Menschen besucht, die sich auch nach den Hamas-Terrorakten vom 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Gaza-Krieg weiterhin für das Miteinander von Israelis und Palästinensern einsetzen. Zum Weihnachtsfest hat die Böhme-Zeitung mit Pastor Berndt über Hoffnung in schwierigen Zeiten gesprochen.
Herr Berndt, laut der biblischen Weihnachtsgeschichte verkündeten die Engel in der Heiligen Nacht den Frieden auf Erden. Fällt es Ihnen persönlich angesichts der aktuellen Situation, der vielen Krisen und Kriege schwer, noch an die Weihnachtsbotschaft zu glauben?
Gottfried Berndt: Ich schreibe zu Weihnachten immer einen Brief an Bekannte und Freunde und versuche da jedes Jahr ein passendes Bild zu finden. In diesem Jahr habe ich ein Foto ausgewählt, das ich in der Nähe von Bethlehem gemacht habe. Dort hat eine palästinensische Familie um ihr Grundstück herum Steine aufgebaut und auf diesen die Botschaft geschrieben: „Wir weigern uns, Feinde zu sein.“ Das fand ich eine sehr bemerkenswerte Aktion. Wenn man Nachrichten schaut, wenn man in die Welt guckt, dann kann man derzeit tatsächlich den Eindruck haben: Das mit Frieden auf Erden, das bringt im Augenblick nichts.
Hat diese Botschaft überhaupt noch Chancen anzukommen?
Das gilt eben ja nicht nur für diese Konfliktherde in unserer Welt, sondern es gilt eben auch für unsere Gesellschaft und für das, was wir im Augenblick bei uns erleben. Und trotzdem möchte ich gerne an dieser Botschaft festhalten, weil ich für die Welt und auch für meine Kinder und für die Enkelkinder im Grunde gar keine andere Zukunft sehe.
Und dabei geben Ihnen Menschen wie die palästinensische Familie Hoffnung?
Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Ich freue mich, dass es solche Menschen gibt, die ich dort in dem heiligen, unheiligen Land erlebt habe. In diesem Jahr bin ich mit einer jüdischen Frau aus Israel an der Grenze zum Gaza-Streifen gewesen, die gesagt hat: „Trotz allem will ich wieder hierherziehen, weil ich weiter Kontakt zu meinen palästinensischen Freunden haben will. Auch wenn meine Kinder und Enkelkinder sagen, du bist ja ganz naiv, wie kannst du das eigentlich noch machen?“ Das ist das, was ich beobachte, sowohl auf palästinensischer als auch auf jüdisch-israelischer Seite in einer Welt, in der sich viele Menschen im Grunde genommen nur noch als Feinde sehen und nicht mehr als Menschen, mit denen man gemeinsam etwas tun kann.
Sie haben den Blick bereits kurz auf unsere eigene Gesellschaft gerichtet. Verfeindet sind die Menschen hier vielleicht nicht, aber ein friedliches Miteinander der Menschen scheint auch hier immer schwieriger.
Ja, Ähnliches erlebe ich bei uns in unserer Gesellschaft. Dass sich die Menschen nicht mehr als Menschen sehen, die vielleicht eine andere Meinung haben, aber mit denen man reden kann und sich austauschen kann, auch streiten kann. Ich habe oft nicht mehr das Gefühl, dass wir hier gegenteilige Meinungen austauschen und dann vielleicht auch etwas Neues dabei gewinnen wollen. Ich habe die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth erlebt, unter anderem auch in Israel, als ich mit der Jugendgruppe dort war. Sie hat gesagt: „Wenn ich in Gespräche gehe, dann gehe ich in diese Diskussionen immer mit der Überlegung rein, auch der Andere könnte recht haben. Dann kann ich ganz anders mit ihm oder mit ihr diskutieren.“ Das würde ich mir wünschen in dieser Situation, in der wir uns politisch im Augenblick hier befinden. Können wir nicht aufeinander zugehen und miteinander reden und sagen, auch der Andere könnte recht haben?
Haben Sie eine Erklärung dafür, woran es liegt, dass das uns heute offenbar so schwer fällt?
Für ein friedliches Miteinander braucht man ganz viel Zeit, Geduld und Kraft. Und es hat natürlich etwas damit zu tun, dass unsere Welt viel komplizierter geworden ist und Lösungen eben nicht einfach zu finden sind. Ich erlebe im Augenblick, dass Menschen, die ganz einfache Lösungen anbieten, damit Erfolg haben, dass man denen hinterherläuft. Ich erlebe das im Gespräch mit meinen Kindern und Enkelkindern, dass sie in einem Umfeld leben, in dem einfache Lösungen gefragt sind und man komplizierte Lösungen eigentlich nicht hören möchte. Das gilt tatsächlich auch gerade für das Thema Frieden.
Das Thema Krieg und Frieden dürfte in Kürze auch im Bundestagswahlkampf in einer etwas verkürzten und vereinfachten Form zur Polarisierung genutzt werden. Wie sehen Sie diese Debatte?
Das macht mir ganz große Sorgen. Ich denke, wir brauchen Menschen, die sich immer wieder neu auf den Weg machen, um ernsthaft nach Lösungen zu suchen. Wie ist Frieden möglich? Ich selbst war sehr stark in der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren engagiert, als es um die Nachrüstung ging, das Thema kennen die meisten heute gar nicht mehr. Ehrlich gesagt haben wir damals auch gedacht, das kann man ganz einfach lösen. Im Laufe der Jahre habe ich gemerkt, dass es nicht so einfach ist, dass Schwächere beschützt werden müssen, in unserer Gesellschaft, aber genauso auch in Zusammenhängen. Und dazu brauchen wir manchmal auch Militär. Der Krieg in der Ukraine zeigt das ganz deutlich. Ich würde mir wünschen, dass es anders wäre.
Heißt das, dass die Weihnachtsbotschaft vor dem Hintergrund der nüchternen Realität letztendlich nur eine Utopie ist?
Nein, für mich persönlich ist diese Weihnachtsbotschaft nach wie vor gültig. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Als die israelischen Truppen Bethlehem im Westjordanland wieder besetzt haben, sind unter anderem ganz viele Fenster zerstört worden, farbige Fenster zu Bruch gegangen. Und es gab dort eine Frau, die handwerklich gut mit Glas umgehen konnte. Diese Frau hat gesagt: „Diese Scherben nehmen wir und machen daraus Engel.“ Und dann hat sie Jugendliche um sich versammelt, die eigentlich viel eher dazu bereit waren, jetzt zurückzuschlagen, und hat aus den Glasscherben sogenannte Scherbenengel gemacht. Diese Frau, die jüdische Frau von der Grenze zu Gaza und die palästinensische Familie, von der ich eingangs erzählt habe, all diese Menschen sind für mich heute Engel, weil sie sagen: Wir weigern uns, Feinde zu sein, weil wir Frieden möchten. Von diesen Menschen gibt es unendlich viele. Und solche Menschen brauchen wir auch heute hier bei uns. Engel sind für mich nicht diese Figuren mit den Flügeln. Engel sind Menschen, die sagen: trotzdem.
Also eine Weihnachtsbotschaft „von unten", die an der Basis Realität wird, ohne dass man etwas naiv die wahren Begebenheiten negiert?
Von diesem, der da in Bethlehem geboren ist, sagen wir Christen ja: Das ist der Heiland. Der macht es heil. Aber dieser Heiland hat sich hineinbegeben in eine Situation, in der er angegriffen worden ist, in der er abgelehnt worden ist. Wichtig ist für mich der Aspekt, dass wir nach unserem Glauben einen Gott haben, der sich ganz klein gemacht hat und der sich als Kind, das angreifbar war, hineinbegeben hat in unsere Welt. Das ist das Besondere an dieser Botschaft, und die dürfen wir nie aufgeben.
Das heißt, die Weihnachtsbotschaft ist weniger eine Verheißung oder ein Versprechen als ein Anspruch, eine Motivation?
Das, was die Engel verkündigen, ist eine Aufforderung für uns alle. Der brasilianische Bischof Dom Helder Camara hat einen Satz geprägt: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“ Und das ist genau so. Wir brauchen viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die sich für den Frieden einsetzen. Und diese vielen kleinen Leute sind viele kleine Engel. Das ist für mich die Botschaft von Weihnachten.