„Wenn es wehtut, ist es zu spät"

Engagiert: Patientenbotschafter Helmut Kurtz (vordere Reihe, zweiter von rechts) beim Fachpodium zum Klinischen Krebsregister in Hamburg.

Bei Männern im fortgeschrittenen Alter ist das Prostatakarzinom eine vergleichsweise häufige Diagnose. Laut Deutscher Krebsgesellschaft macht der bösartige Tumor der Vorsteherdrüse in Deutschland etwa 22,7 Prozent aller Krebserkrankungen aus. Aufgrund der hohen Zahl Betroffener – 2020 etwa wurden 65.820 Neuerkrankungen registriert – ist Prostatakrebs in absoluten Zahlen die dritthäufigste krebsbedingte Todesursache in Deutschland. Dabei sind die Heilungschancen eigentlich gut. „Die Wahrscheinlichkeit, 5 Jahre nach der Diagnose noch am Leben zu sein, ist mit 89 Prozent die zweithöchste unter allen Krebserkrankungen in Deutschland", heißt es bei der Krebsgesellschaft. Je früher die im Frühstadium komplett symptomlos verlaufende Erkrankung festgestellt wird, desto besser sind die Chancen für eine vollständige Heilung. Als Risikofaktoren für Prostatakrebs gelten ein hohes Lebensalter, genetische Veranlagung und Ernährung.

Ernennung zum Patientenbotschafter im Februar

Helmut Kurtz erhielt seine Diagnose vor acht Jahren, seitdem engagiert er sich in der Patienten-Selbsthilfe. Er kennt das ungute Gefühl und die Angst, wenn der Besuch beim Urologen die Krebserkrankung offenbart. Kurtz kennt auch das erlösende Gefühl einer erfolgreich durchgeführten Operation, er hat die herausragende Bedeutung rechtzeitiger Diagnostik und Behandlung persönlich erfahren. Heute wirbt er für die Früherkennung, steht Erkrankten mit Rat und Tat zur Seite und bringt sich als Patientenvertreter in Fachdiskurse ein. Im Februar wurde der Soltauer nach einer entsprechenden Ausbildung zum Patientenbotschafter ernannt. In diese Funktion lud das Land Hamburg ihn nun zu einem Symposion mit Qualitätskonferenz ein, ausgerichtet vom Klinischen Krebsregister der Stadt. An der Veranstaltung nahmen hochrangige medizinische Experten und auch Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank teil. Im BZ-Gespräch berichtet Kurtz von seinem ehrenamtlichen Engagement und die Herausforderungen beim Thema Prostatakarzinom.

Herr Kurtz, wie wird man eigentlich Patientenbeauftragter und -botschafter?
Helmut Kurtz: Bis 2006 war ich als Direktor eines amerikanischen IT-Unternehmen beruflich stark engagiert. Dann bekam ich die Diagnose Prostatakarzinom und wusste im ersten Moment gar nichts damit anzufangen. Also habe ich nach Informationen gesucht und in Soltau eine kleine Selbsthilfegruppe gefunden. Dort wurde mir sehr geholfen, vor allem psychologisch. Mir wurde klar, wie wichtig so etwas ist. Ich wollte etwas zurückgeben. So habe ich gesagt: Ihr habt mir geholfen, und jetzt helfe ich euch auch. 2007 trat ich in die Gruppe ein und übernahm deren Leitung. Seitdem bin ich aktiv in der Patientenorganisation, auch im Bundesvorstand, der mich dann als Patienten-Sachverständigen für den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) vorgeschlagenen hat. Der GBA ist das obersten Beschlussgremium der ärztlichen Selbstverwaltung. Ich war lange Vorstand der Krebsgesellschaft Niedersachsen und im Wissenschaftlichen Beirat des Klinischen Krebsregisters, habe fast 10 Jahre lang zwei Landesverbände, Niedersachsen und Bremen, als Vorsitzender geführt. Jetzt bin ich dabei, die norddeutschen Bundesländer Bremen, Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein in der Patientenorganisation zusammenzuführen. So wurden die Universitätskliniken aus Hamburg, Lübeck und Kiel auf mich aufmerksam und fragten, ob ich mich nicht zum Patientenbotschafter ausbilden lassen und bei ihnen ehrenamtlich mitarbeiten möchte. Das habe ich getan, und wurde im Februar zum Patientenbotschafter ernannt.

Jeder hat mal mit Krankheiten zu tun und beschäftigt sich dann notgedrungen damit. Nach der Gesundung sind die meisten aber froh, das Thema hinter sich lassen zu können...
So ist das, ich merke das auch in der Selbsthilfegruppe. Aber ich habe da so viele nette Leute kennengelernt, auch Ehepaare, denen ich helfen konnte. Das hat mir so viel Kraft gegeben, dass ich weitergemacht habe. Ich bekomme kein Geld, mache das alles ehrenamtlich. Es macht mir einfach Freude, Menschen zu helfen, die vor mir sitzen, nachdem sie beim Arzt vielleicht ein bisschen abgeblockt worden sind. Der Urologe verkündet die Diagnose, danach ist der Patient allein mit so vielen Gedanken. Sich mit diesen Menschen zu unterhalten und zu sehen, wie ihnen das weiterhilft, ihre Dankbarkeit zu spüren – das ist ein schönes Gefühl. Ebenso wichtig ist es mir, mit Professoren und anderen Experten in den Gremien darüber zu diskutieren, was aus Patientensicht notwendig ist. Ich habe viele Bücher gelesen und Seminare besucht. Das ist wichtig, um auf Augenhöhe mitreden zu können und überhaupt wahrgenommen und verstanden zu werden. Ich musste mich da reinfuchsen und vieles lernen, ich komme beruflich aus einem ganz anderen Bereich. Das Schlimmste, was passieren kann ist, irgendwo in einem Gremium zu sitzen und nichts Profundes zu sagen zu haben. Das ist auch für Ärzte schwierig, wenn Patientenvertreter keine Ahnung haben und sich trotzdem aufregen. Da bin ich ein bisschen anders. Inzwischen 79 Jahre alt, werde ich mich aus einigen Sachen nun schrittweise etwas zurücknehmen. Aber ich bleibe Patientenbotschafter und GBA-Sachverständiger in Berlin.

Was ist Ihre Hauptaufgabe als Patientenbotschafter?
Aktiv mit den Fachexperten der Universitätskliniken zusammenzuarbeiten, zum Beispiel durch das Einbringen der Patientenperspektive bei der Entwicklung und Durchführung von Krebsforschungsprojekten und klinischen Studien. Ich weiß ja, wie Patienten sich fühlen. Ärzte wissen das oft nicht. Die diskutieren, und ich denke mir manchmal: Fragt doch einfach mal die Patienten, was die davon halten. Das ist auch festgeschrieben im 5. Sozialgesetzbuch: Patientenvertreter haben bei Forschungsprojekten heute ein Mitspracherecht. Da geht es um alle Krebsarten. Ich habe mich aber auf Prostatakrebs spezialisiert. Das ist mit 65000 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland die häufigste Krebserkrankung beim Mann. Da gibt es genug zu tun.

In Hamburg ging es jetzt ums Klinische Krebsregister. Was verbirgt sich dahinter?
Das war ein Symposium anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Klinischen Krebsregisters in Hamburg. Es geht um Datenerhebung als Grundlage evidenzbasierter Medizin. Mittels gesammelter Daten kann gezeigt werden, welche Krebsarten wo besonders häufig oder selten vorkommen. Man sieht zum Beispiel, dass Prostatakrebs in Blankenese seltener ist als in industrieller geprägten Stadtgebieten. Weil Menschen in Blankenese mehr Geld haben und sich im Durchschnitt besser ernähren, es mehr Natur gibt.

Ist das Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken, in ländlichen Regionen demnach niedriger als in der Großstadt?
Beim Krebsregister gibt zur Verteilung ein Farbschema, und da schneidet der Heidekreis tatsächlich überwiegend besser als zum Beispiel Hamburg ab. Das heißt aber leider auch, dass Bürger hier im Schnitt seltener zur Früherkennung gehen. Dabei sind Früherkennungsmaßnahmen extrem wichtig. Bei mir in der Gruppe sind regelmäßig Leute, die bereits Metastasen haben. Die kann man durch Medikamente ein bisschen hemmen, aber in diesem Stadium ist es schon sehr kritisch. Die Medizin entwickelt sich ständig, und ich bin am Ball und kann berichten, was es Neues gibt. Die Betroffenen kommen jeden Monat und informieren sich über den Stand der Krebsmedizin und darüber, was sie noch machen, wo sie vielleicht noch hingehen können. Dafür ist meine Ausbildung ganz wichtig. Ich war im Labor, habe mir Strahlentherapie angeschaut, war bei zwei Operationen anwesend. Wird der Krebs frühzeitig erkannt, ist die Situation eine ganz andere. Solange der Krebs sich in der Kapsel befindet, ist er heilbar. Prostatakrebs bemerkt man als Betroffener aber erst, wenn der Krebs seine Kapsel durchbrochen hat und sich Metastasen gebildet haben, die jetzt irgendwo einen Knochen angreifen. Dann geht man wegen Schmerzen zum Arzt. Aber wenn es wehtut, ist es leider schon zu spät.

Wie stellt man Früherkennung sicher?
Ganz entscheidend ist meiner Meinung nach die frühzeitige Messung des PSA-Werts. Wenn man mit 40 oder 45 Jahren einen ersten PSA-Test durchführen lässt und dabei ein Wert von unter 1 rauskommt, braucht man die nächsten zehn Jahre nicht mehr wiederzukommen. So lassen sich schon einmal 50 Prozent Patienten herausfiltern, die müssen für einen langen Zeitraum nicht mehr zur Früherkennung kommen. Der PSA-Wert ist das einzige zuverlässige Indiz dafür, ob potenziell irgendwas vorliegt oder nicht. Die Kosten für den Test werden von den gesetzlichen Krankenkassen aber noch nicht getragen. Man muss beim Urologen knapp 30 Euro dafür zahlen. Wir Patientenvertreter fordern, das unbedingt zu ändern. Menschen mit wenig Geld verzichten sonst auf den Test. Müssen die dann später operiert werden, kostet das den Krankenkassen 12000 Euro pro Fall. Jeder sollte stattdessen dazu gebracht werden, seinen PSA-Wert einmal messen zu lassen, um danach personalisierte Behandlung zu erhalten. Das ist besser, am Ende auch billiger, als alle über den Daumen zu behandeln. Die übliche kostenlose Voruntersuchung bringt viel weniger Nutzen. Der Krebs ist nicht gleichmäßig verteilt, er kann beim Abtasten entdeckt werden, oder auch nicht. Es gibt heute zuverlässigere Methoden, die sollten konsequent zur Anwendung gelangen. Ich selbst habe erfahren, wie glimpflich es ausgeht, wenn der Krebs rechtzeitig erkannt wird. Bei mir war er noch in der Kapsel, als ich 2006 operiert wurde. Heute treibe ich Sport und achte auf meine Ernährung. Man kann auch selbst viel tun.