Mathe-Abitur schockt erneut Abiturienten

Für viele Schüler ist Mathematik ein „böhmisches Dorf“. Doch selbst Abiturienten, die das Fach mit in die Prüfungen nehmen zeigen sich schockiert über das hohe Niveau der Abi-Klausuren, beziehungsweise das niedrige Unterrichts-Niveau. Foto: pixabay

Der diesjährige Abiturjahrgang hat die meisten Klausuren absolviert und feiert – oder bammelt je nach Erfahrungswert in den Klausuren. Wie in früheren Jahren ragt bei den Negativerfahrungen wieder ein Fach deutlich heraus, wie Gespräche mit Abiturienten bestätigen. Die Mathematik-Klausur hat bei vier Abiturienten, deren Namen vor dem Hintergrund der noch nicht vollständig abgeschlossenen Prüfungen nicht genannt werden, in Schneverdingen und Soltau für einen echten Schock-Moment gesorgt.

Geschockt über Niveau: Schüler wollen früher mit Klausurniveau konfrontiert werden

Eine Abiturientin der KGS Schneverdingen, die bis zum Abitur in Mathematik im Schnitt zwischen 10 und 11 Punkten gelegen habe, zeigte sich über das Klausur-Niveau schockiert. „Die Aufgaben der Abiturklausur waren in ihrer Komplexität und Aufgabenstellung komplett anders, als wie wir es gelernt haben. Das lässt sich nicht ansatzweise mit dem vergleichen, was wir im Unterricht anhand unserer Fachbücher gelernt haben“, so die angehende Schulabsolventin. Sie habe im Abitur nichts durchrechnen können und nur noch Ansätze zu Papier gebracht, um wenigstens Teilpunkte zu ergattern.

Eine Mitschülerin erklärt, mit früheren Mathe-Abiturklausuren der sogenannten Stark-Bücher gelernt zu haben. „Ich habe für Mathe mehr gelernt als für alle anderen Fächer“, betont sie. Aus den Unterrichtsmaterialien habe man immer gewusst, was berechnet werden sollte, das hätte das Niveau der Abiturklausuren nicht mehr hergegeben. „So ist das im Unterricht nicht gefordert worden.“ In der Klausur sei sie froh gewesen, wenigstens beim Wahlteil auswählen zu können.

„Diese Klausur hat mich wohl mein Abi gekostet, das wird ganz sicher mein schlechtestes Klausur-Ergebnis“, befürchtet ein dritter Abiturient der KGS sogar angesichts der Mathe-Klausur sein Scheitern.

„Taschenrechnerfreier Teil wurde nie geübt“

Auch am Gymnasium Soltau wurde offenbar das Fach nicht so unterrichtet, wie das Wissen am Ende in der Klausur abgefordert worden ist. „Alle Aufgaben, die wir im Abitur gehabt haben, haben wir zuvor nicht einmal in unserem Unterricht gerechnet. Die Aufgaben im Abi stimmten nicht annähernd mit den Aufgaben überein, die vorher besprochen wurden“, zeigt sich eine Soltauer Abiturientin ähnlich geschockt, wie die Oberprimaner aus Schneverdingen. Im Schulbuch stünden Aufgaben, die deutlich einfacher seien als die im Abitur. „Und den taschenrechnerfreien Teil haben wird zuvor nie in unserem Kurs im Unterricht geübt.“

Dass es im Mathematik-Abitur eine gewisse Schere zwischen Unterricht und Klausurniveau gibt, bestätigen nicht nur die Aussagen der Schüler. Auch die Maßnahmen der zuständigen Behörden bestätigen eine gewisse Abweichung – und zwar landesweit. So habe 2016 eine Aufwertung der Klausuren durch Absenkung der zu berücksichtigenden Gesamtzahl der Bewertungseinheiten um 12,5 Prozent stattgefunden, berichtet die Landesschulbehörde Lüneburg. Und im Jahr 2022 habe es eine Aufwertung der Klausurergebnisse „um einen KMK-Notenpunkt“ gegeben.

Schulleiter: „Unterrichtsversorgung ist nicht optimal“

Auf Nachfrage am Gymnasium Soltau und der KGS Schneverdingen teilen deren Schulleiter Volker Wrigge und Mani Taghi-Khani mit, dass es zumindest seitens der Schüler keine Kritik gegenüber der Schulleitung oder den Oberstufenkoordinatoren gegeben habe. Da die Korrekturen noch andauerten, seien Abweichungen im Niveau zurzeit noch nicht feststellbar, so Taghi-Khani.

Gleichwohl sind die von den vier Abiturienten unabhängig voneinander genannten Abweichungen zwischen Unterrichts- und Abiturklausurniveau auffällig. Doch woran liegt das? „Grundsätzlich ist die Unterrichtsversorgung in Niedersachsen nicht optimal“, konstatiert zwar Taghi-Khani. Dass es im Fach Mathematik überproportionale viele Unterrichtsausfälle gegeben habe, könne er aber nicht bestätigen.

Land erhebt keine Daten zu Unterrichtsausfällen

Laut Landesschulbehörde sind im laufenden Schuljahr an den allgemeinbildenden Schulen in Niedersachsen 4555 Gymnasiallehrer für das Fach Mathematik (MA) beschäftigt. Gesundheitlich und familiär bedingte Ausfälle könnten die Unterrichtskontinuität erschweren. Die Versorgung von Schulen im ländlichen Raum stelle zudem eine besondere Herausforderung dar, da zur Verfügung stehende Lehrkräfte mehrheitlich eine Beschäftigung im großstädtischen Bereich bevorzugten.

Und laut Landesregierung seien besondere Auffälligkeiten zu Ausfällen bei Mathematik-Lehrern nicht bekannt – allerdings würden auch „Daten zum Unterrichtsausfall an den allgemein bildenden Schulen statistisch nicht erhoben“.

Nach Angaben der Landesschulbehörde ist gleichwohl schon jetzt bei nachfolgenden Abiturjahrgängen erkennbar, dass das Lernniveau an den Bildungseinrichtungen hinkt. „Beispielsweise durch die Ergebnisse der IQB-Bildungstrends ist erkennbar, dass das Erreichen der Standards unter anderem im Fach Mathematik nach wie vor für einen Teil der Lernenden eine Herausforderung darstellt.“ Gleichwohl erfülle „ein Großteil der Prüflinge in der schriftlichen Abiturprüfung die an sie gestellten Erwartungen“, so die Landesschulbehörde.

An diesem Punkt sieht zumindest der Soltauer Gymnasialdirektor seine Schule beim Unterrichtsniveau offenbar deutlich oberhalb der Wasserlinie. „Das Lernniveau des Gymnasiums Soltau lag in den vergangenen Jahren ausweislich der Abiturergebnisse jeweils deutlich über dem Landesdurchschnitt. Die Schulleitung erwartet auch in diesem Jahr keine dramatischen Einbrüche“, so Volker Wrigge.

Schulbehörde schätzt Klausurniveau als „sehr angemessen“ ein

Die Landesschulbehörde betont, die Mathe-Abiturklausuren landesweit besonders im Blick gehabt zu haben. Insbesondere vor dem Hintergrund der Einschätzung der schriftlichen Prüfung im Jahr 2022, die damals zu einer Anhebung geführt hat, ist bei der Erstellung der Prüfungsaufgaben ganz besonders auf deren Bewältigbarkeit geachtet worden – auch vor dem Hintergrund der Bedingungen für den Unterricht in den vorhergehenden Jahren und während der Pandemie“, so die Behörde. Sie schätzt das Niveau und die Länge der Klausuren als „sehr angemessen“ ein.

Ob die Schere zwischen dem erreichten Unterrichtsniveau und den Klausuren im Fachbereich Mathematik nur gefühlt oder auch tatsächlich besteht, werden die Ergebnisse der Klausuren offenbaren. Doch zumindest haben, ungeachtet der niedersächsischen Angemessenheits-Beteuerungen, die Länder erkannt, dass Handlungsbedarf besteht – und handeln. Bereits im Dezember 2021 hat KMK die Durchführung eines umfangreichen Programms „QuaMath“ zur Qualitätsentwicklung im Mathematikunterricht beschlossen.


Wer die Prüfungen wie entwickelt

Der Gemeinsame Abituraufgabenpool der Länder für das Fach Mathematik, aus dem sich auch Niedersachsen für die Abiturklausuren bedient, wird von einer Arbeitsgruppe zur Aufgabenentwicklung der Kultusministerkonferenz (KMK) unter Leitung des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) erstellt. In dieser Arbeitsgruppe sind alle Bundesländer vertreten. Die Vertreter in dieser Arbeitsgruppe müssen sowohl Unterrichtserfahrung im Fach Mathematik als auch Erfahrung mit der Erstellung von Abituraufgaben in den Ländern mitbringen.

Die niedersächsischen Klausuren werden unter Einbeziehung des Abituraufgabenpool ebenfalls von einer Kommission aus erfahrenen Mathematiklehrkräften erstellt und durch zwei Gruppen von Fachexperten, bei denen es sich ebenfalls um erfahrene Mathematiklehrkräfte handelt, mit Blick auf Verständlichkeit, Umfang, Bewältigbarkeit der Anforderungen und weiterer Aspekte geprüft. (Quelle: Landesschulbehörde Lüneburg)