Landwende 2070: „Ich blicke mit viel mehr Vertrauen in die Zukunft“

An der ehrwürdigen Leopoldina, der nationalen Akademie der Wissenschaften, haben 32 junge Menschen eine Woche lang unter wissenschaftlicher Begleitung an einer Zukunftswerkstatt „Landwende“ zum Thema teilgenommen und sich mit der Frage befasst, wie die jungen Menschen sich das ideale Leben auf dem Land im Jahr 2070 vorstellen. Die Schneverdinger Psychologie-Studentin Thea Terjung gehörte zu den maximal 27 Jahre jungen Auserwählten der gezielt interdisziplinär zusammengestellten Diskussionsgruppe. Die Lebensrealitäten waren ebenfalls bewusst unterschiedlich gewählt: „Von Landei bis Metropolitan, von Süd nach Nord, von Ost nach West, von Praktiker bis Student, von Natur- über Geisteswissenschaftler, von Landwirt bis zum Arzt – es war alles vertreten“, wie es seitens der Organisatoren heißt. Ziel war es, in einem mehrtägigen Prozess und in der Diskussion methodisch wissenschaftlich unterstützt eine oder mehrere Visionen für den Zeitraum bis 2070 zu entwerfen, um das „Trilemma“ aus Biodiversität, Klimaschutz und Ernährungssouveränität in den Griff zu bekommen. Die an der Universität Hamburg studierende Terjung ist über die Studienstiftung des deutschen Volkes auf das Projekt aufmerksam geworden, hat sich beworben – und konnte teilnehmen. Die BZ hat mit Terjung über die Zukunftswerkstatt gesprochen.

War die Zukunftswerkstatt Landwende 2070 der Aufruf, eine ideale Welt zu konstruieren?
Thea Terjung:
Ja, das war aber lediglich eine Auftaktveranstaltung, bei der wir in einem interdisziplinären Prozess erarbeitet haben, wie wir in der fernen Zukunft auf dem Land beziehungsweise zwischen Stadt und Land ideal leben möchten. Es ging um eine Vision. Inzwischen hatten wir auch schon das erste Anschluss-Meeting mit den Beteiligten, die weiter an der Zukunftswerkstatt mitwirken möchten. Ich hoffe sehr, dass da noch viel kommen und die Diskussion fortgesetzt wird.

Wie sind Sie in diese Auswahlgruppe überhaupt hineingekommen, gab es einen Ausgang an Ihrer Uni? Die Leopoldina hat die fünftägige Zukunftswerkstatt über eine Reihe von Verbänden beworben und dabei gezielt junge Menschen angesprochen. Ich selbst bin über die Studienstiftung des deutschen Volkes dazugestoßen. Ich fand es schon immer prima, mich irgendwie mit anderen Disziplinen auszutauschen, weil wir in der Psychologie sehr unter uns bleiben.

Hat Sie der interdisziplinäre Austausch denn weitergebracht?
Auf jeden Fall. Ich habe viel mitgenommen und neue Menschen kennengelernt. Die Veranstalter haben sehr bewusst Teilnehmer aus verschiedenen Bereichen ausgewählt: Landwirtschaft, Naturschutz, Forschung, Kirche, Soziologie, Psychologie. Die Diskussionen sollten von vornherein breit und kontrovers erfolgen. Die Gruppe ist wissenschaftlich betreut worden aus verschiedenen Bereichen wie Politik, Biodiversität, Klima, Ernährung, Ethik, ein Psychologe war auch dabei.

Wie muss ich man sich das vorstellen?
Der Diskurs war organisiert und auch methodisch gut betreut. Wir hatten am ersten Tag ganz viel Input über Vorträge, wo uns die Forscher einen Einblick gegeben haben in ihre Arbeit. Dann saßen an verschiedenen Tischen Professoren, denen wir in kleineren Gruppen offen Fragen stellen konnten, etwa darüber, womit sie sich in ihrem Forschungsalltag beschäftigen. Das sind meist eng abgegrenzte Themen, für die die Forscher über ihr fachliches Grundlagenwissen hinaus Experten sind. Da war zum Beispiel eine Expertin für Ernährungssicherheit. So verlief der Austausch sehr direkt und das, aufgrund unserer eigenen Fachbereiche eben auch interdisziplinär. Ab dem dritten Tag haben wir damit begonnen, ein Konzept davon zu entwerfen, wie wir uns unsere Zukunft vorstellen.

Hatten Sie selber denn schon vor der Zukunftswerkstatt eine Vorstellung von der eigenen fernen Zukunft?
Ja, aber eher abstrakt. Ich fand es erstmal überfordernd, darüber überhaupt nachzudenken, was 2070 eigentlich sein könnte, denn dann bin ich 70. Ich habe dann hoffentlich schon viel erlebt und die Welt ist eine andere als die heutige. Krisen und Kriege verändern unsere Welt sowieso permanent, die Klimakrise gleich vorne an. Deswegen war ich im Vorfeld der Zukunftswerkstatt auch nicht ganz so zuversichtlich.

Weltuntergangsstimmung gab es aber auch früher schon.
Ich würde mich eigentlich auch eher als optimistischen Menschen bezeichnen, zumal ich die Privilegien habe, einen großen Handlungsspielraum zu nutzen. Ich durfte schon jung relativ viel sehen, habe ein Auslandsjahr gemacht und hatte große Freiheiten. Nicht jede Person hat aber diese emotionalen, psychischen und auch monetären Kapazitäten, sich engagieren zu dürfen. Aber ich glaube, dass jeder Mensch in seinem eigenen Handlungsspielraum Dinge verändern und positiv besetzen kann.

Wie war denn Ihre konkrete Vorstellung?
Ich habe sehr romantisierend viel Natur vor Augen gehabt, ein Feld, Tiere, Blumen, jede Menge Artenvielfalt und noch mehr frische Luft – das Ideal eines positiven Rückzugsorts.

Aber sind Sie in Schneverdingen nicht genau so aufgewachsen?
Das stimmt, aber meine Eltern sind noch mal anders aufgewachsen, und auch in jener Zeit hat sich unser Land verändert. Da gab es noch Vogelarten, die ich gar nicht kenne, weil es sie nicht mehr gibt. Und bei meinen Kindern ist es vielleicht noch einmal anders. Auch meine Freundinnen, die in der Stadt groß geworden sind, sehen die Natur mit noch ganz anderen Augen.

Haben wir denn heute schon etwas, das auch 2070 Bestand haben soll?
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, freie Presse – wären ein Anfang. Die Demokratie zu schützen, ist aktuell eine unser wichtigsten Aufgaben.

Welche Vorstellungen wurden im Dialog als möglicherweise unrealistisch verworfen?
Eigentlich nichts, weil wir uns immer wieder davon freimachen mussten, Visionen für unrealistisch zu halten. Denn damit kommt man nur ins Negative. Mit der Hilfe der methodischen Begleitung durch das Fraunhofer-Institut, sind wir von der Annahme ausgegangen, das alles möglich ist.

Was war den die skurrilste Vision?
Skurril war gar keine Vorstellung. Wir haben aber sehr lange über Individualverkehr
diskutiert. Die autofreie Stadt war ein großes Thema. Da sind wir uns auch nicht einig geworden. Weil man natürlich auch sagen muss, wenn man sich in der Stadt eine gute Anbindung wünscht, dann wünscht man sich das auch auf dem Land. Andererseits haben die Menschen in vielen Punkten auch eine andere Bedürfnisorientierung, etwa in Fragen von Kultur und Einkaufsmöglichkeiten.

Was muss denn für die Landwende 2070 geschehen?
Ideal wäre es, wenn wir den Druck vom Land und von der Natur nehmen. Dafür müssen wir Regelwerke schaffen und der Natur eine Stimme geben. Um das zu erreichen, wird es auf die Bildung und die Bewusstseinsveränderung ankommen. Durch die politischen Rahmenbedingungen kann man das Individuum davon befreien, Entscheidungen treffen zu müssen. Da führt für mich kein Weg dran vorbei. Im Ergebnis geht es um Ressourcenschonung.

Was ist denn dabei der limitierende Faktor, der wichtigste Hebel?
Der Mensch und das vor allem monetär geprägte Machtgefälle zwischen Personen und Interessengruppen.

Wo ist das interdisziplinäre Diskutieren auf besonders hohe Hürden gestoßen?
Verschiedene Gruppierungen und unterschiedliche Meinungen waren vertreten. Das hat die Debatte in meinen Augen total bereichert. Der Punkt ist, wir wollen in einer Demokratie leben, den Sozialstaat verbessern und die Rechtsstaatlichkeit erhalten. Das sind die Rahmenbedingungen, auf die wir uns geeinigt haben, auch wenn wir im Detail auseinandergedriftet sind.

Bei den Kernbotschaften der Zukunftswerkstatt wird das Teilen und das Genossenschaftswesen sowie die Verpflichtung von Eigentum fokussiert. Da schimmert ein wenig Sozialismus durch. War das historische Scheitern dieser Ideologie kein Thema?
Ich möchte das mal so beantworten: Wir haben ja verschiedene Zukunftsvisionen erarbeitet. Und hinter den Ergebnissen stehen auch nicht alle. In einer Demokratie dauern Prozesse lang, der Weg zur Veränderung ist zäh und Konflikte gehören dazu. Ich sehe das nicht als etwas Negatives. Wir haben unterschiedliche Meinungen, Herkünfte und Perspektiven, klären aber alles in einem demokratischen System. Mit der Veranstaltung haben wir uns nun auf den Weg gemacht, positive Zukunftsszenarien an die Menschen weiterzugeben und machen jetzt das Angebot: Stell Dir die Landwende mit Nachhaltigkeit, Biodiversität, Klimaschutz und Ernährungssicherheit doch einfach vor! Der Weg dahin ist das Ziel.

Was hat sich denn für Sie persönlich durch die Zukunftswerkstatt in den Vorstellungen verändert?
Ich blicke jetzt um einiges positiver, zuversichtlicher und mit viel mehr Vertrauen in die Zukunft, weil es uns gelungen ist, ein positives Szenario zu kreieren. Die negativen Zukunftsszenarien, die uns medial immer wieder vor Augen geführt werden, bestimmen nicht mehr so sehr den Blick nach vorn. Ich bin jetzt davon überzeugt, dass das skizzierte romantische Bild unter bestimmten Voraussetzungen, die wir selbst mit bestimmen, ein realistisches werden kann.