„Es ist doch nur Schule“
Klausurenphase, Hausaufgaben, Klausurvorbereitung – im System Schule gibt es Vieles, was Stress auslösen kann. Tatsächlich fühlen sich immer mehr Schülerinnen und Schüler belastet. Das hat auch körperliche Folgen. Ein Drittel der Schüler klagte schon 2017 bei einer Befragung des Präventionsradars der DAK-Krankenkasse über Kopf- und Rückenschmerzen und Schlafprobleme. „Hauptsächlich müssen wir sehen, Bezugspersonen in der Schule zu schaffen und das Bewusstsein für psychische Belastungen zu schärfen“, forderte der Sprecher des Kreisschülerrates im Heidekreis, Henri Kreipe, im Gespräch mit der BZ, um dem Problem entgegenzuwirken. Birgit Koch ist Schulpsychologin und arbeitet an einer gymnasialen Oberstufe in Hamburg. Sie ist zudem Trainerin für Präventionsprogramme gegen Schulstress. Sie spricht im Interview darüber, was Eltern, Lehrkräfte und Schüler gemeinsam gegen Stress tun können und warum Gelassenheit dafür essenziell ist.
Sie sind unter anderem Trainerin für die Präventionsprogramme Snake und Bleib locker - worauf setzen diese Programme?
Birgit Koch: Das Programm Snake steht für „Stress nicht als Katastrophe erleben“ und richtet sich an Schulkinder der Jahrgänge 8 und 9. „Bleib locker“ erreicht Kinder im Grundschulalter. Beide Programme sind wissenschaftlich validiert und in der Praxis bewährt. In den Programmen geht es darum, Kindern und Jugendlichen Strategien zur gesundheitsförderlichen Stressbewältigung aufzuzeigen. Die Kinder und Jugendlichen erfahren Wissenswertes über das Phänomen Stress. Zum Beispiel, dass Stress vom Grundsatz her etwas Positives ist und dass die evolutionär verankerte akute Stressreaktion überlebenswichtig für die Spezies Mensch war und ist. In den Kursen geht es aber auch darum, mit den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen auf altersgerechte Weise den Unterschied zwischen akutem und chronischem Stress zu erarbeiten. Von chronischem und somit potenziell gesundheitsschädlichem Stresserleben spricht man, wenn die Stressreaktion zu oft, zu lange und in nicht bedrohlichen Situationen ausgelöst wird. Die Schülerinnen und Schüler lernen, ihre eigene Stressbelastung einzuordnen und erproben Methoden, Überlastung vorzubeugen sowie Herausforderungen effektiv und selbstwirksam zu begegnen.
Worauf kommt es da besonders an?
Es gibt drei Ebenen, auf denen Maßnahmen zur Stressbewältigung und Prävention stattfinden können. Die erste, übergeordnete Ebene umfasst das gesamte System, einschließlich der Gesellschaft und des Bildungssystems. Hier sind wir als Gesellschaft gefragt. Auf der zweiten, mittleren Ebene verorten sich die einzelnen Schulen. Auch auf dieser Ebene können Eltern, Schülerinnen und Schüler Einfluss nehmen, zum Beispiel durch Teilnahme an schulischen Gremien oder Aktivitäten zur Schülerpartizipation wie dem Schülerrat. Die dritte Ebene bezieht sich auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler, also die individuelle Ebene.
Und auf der individuellen Ebene?
Auf der individuellen Ebene können Kinder und Jugendliche bestimmte individuelle Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen aufbauen. Dazu gehören unter anderem Selbstwirksamkeit, praktische Fähigkeiten wie Zeit- und Konfliktmanagement, Emotionsregulation, die Fähigkeit, intrinsische Motivation aufrechtzuerhalten, Durchhaltevermögen und die Entdeckung von Handlungsfreiräumen und -optionen. Auch die Akzeptanz von und der Umgang mit Fehlern ist eine wichtige Kompetenz – zu sehen, dass Rückschläge und Umwege dazugehören. Eine positive Einstellung zum lebenslangen Lernen ist ebenfalls wichtig. Da kann auch das Elternhaus viel unterstützen und vermitteln.
Aus Ihrer Erfahrung, aus Ihrer Arbeit in der Schule – was an Schule stresst Schülerinnen und Schüler besonders?
Kinder und Jugendliche sind heutzutage vielen Belastungen ausgesetzt. Im Schulalltag beschreiben sie als Stressoren beispielsweise die starke Belastung in Klausurenphasen sowie hohen Leistungsdruck. Teilweise klagen sie auch über die vermutete fehlende Praxisnähe der vermittelten Lehrstoffe. Hinzukommt, dass das Schulsystem im Moment an vielen Stellen als ein Mangelsystem wahrgenommen wird, mit zum Beispiel maroden Gebäuden und fehlenden Lehrkräften. Manche Schülerinnen und Schüler sind noch mit den Nachwirkungen der Corona-Pandemie beschäftigt. Zudem nehmen Schülerinnen und Schüler die aktuellen Krisen und Herausforderungen unserer Zeit und deren konkrete Auswirkungen auf ihren Alltag und ihr individuelles Erleben wahr. Das reicht vom Umgang mit sozialen Medien und künstlicher Intelligenz, sich verändernden Geschlechterrollen bis hin zu Themen wie Krieg, Migration und Klimawandel. Auch viele Erwachsene haben zunehmend das Gefühl, dass sich in vielen Bereichen gerade in einem schnellen Tempo Veränderungen stattfinden. Dies kann zu Gefühlen wie Überlastung oder Zukunftsangst führen. Der stellvertretende Vorsitzende der Sektion Schulpsychologie des Berufsverbands deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), Klaus Seiffried, konstatiert dazu: „Schule kann nicht besser sein als die Gesellschaft“. Und die Gesellschaft ist eben gerade belastet.
Welche Rolle kann Wissen über psychische Gesundheit bei der Bewältigung von Schulstress spielen?
Psychoedukation zum Thema psychische Gesundheit ist immens wichtig und kann Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, gesundheitsförderliches Verhalten aufzubauen. Schülerinnen und Schüler sollten über die Bedeutung psychomentalen Wohlbefindens und gelingender Stressbewältigung als präventive Faktoren für psychische und körperliche Gesundheit informiert sein. Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich in der Schule nicht wohl. Es ist daher wichtig, dass sie ein Bewusstsein für die eigene psychische Gesundheit entwickeln, ihre individuelle Belastung im Schulalltag einschätzen können und wissen, wie sie damit jeweils situationsbezogen gut für sich umgehen und so ihr Wohlbefinden fördern können.
Sie sind Schulpsychologin und Fachleitung für Psychologie an einer gymnasialen Oberstufe – welche Rolle spielt Schulpsychologie bei der Bewältigung von Schulstress?
Bildung und psychische Gesundheit sind zentrale Ressourcen unserer Gesellschaft. Daher sollte das psychische Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern in den Fokus genommen werden. Wie ausbaufähig die schulpsychologische Versorgung hierzulande noch ist, zeigt der internationale Vergleich. Im internationalen Durchschnitt beträgt das Verhältnis 1 zu 1000 – also ein Schulpsychologe für 1000 Schülerinnen und Schüler. In Niedersachsen liegt es bei 1 zu 9328, also neunmal höher als im internationalen Durchschnitt. Hamburg hat immerhin ein Verhältnis von 1 zu 3307. Die Sektion Schulpsychologie des BDP fordert daher in einem Positionspapier mehr psychologische Unterstützung an Schulen, also mehr Schulpsychologen, Sozialarbeiter und mehr Psychoedukation. Letztendlich müssen wir uns als Gesellschaft fragen, was uns Bildung und psychomentale Gesundheitsvorsorge wert sind. Es gibt viel, was getan und erreicht werden kann, wenn alle Akteure des Schulsystems an einem Strang ziehen.
Sehen Sie da eine Entwicklung?
Ich sehe die Entwicklung durchaus optimistisch, denn das Bewusstsein für die psychische Gesundheit der Schülerinnen und Schüler nimmt zu. In Hamburg gibt es zum Beispiel das Projekt „Achtsamkeit an Hamburger Schulen“. Dabei geht es nicht nur um Meditation oder Yoga, sondern auch um Bewegung, Ernährung, Stressbewältigung und ganz allgemein um psychologische Gesundheitsförderung. Ähnliche Projekte gibt es zunehmend auch für die Lehrkräftegesundheit. Schule sollte immer als System betrachtet werden.
Welche Maßnahmen können Schulen ergreifen, um den Schulstress bei ihren Schülerinnen und ****Schülern zu reduzieren?
Um das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit der Schülerinnen und Schüler zu verbessern, können auf verschiedenen Ebenen Maßnahmen ergriffen werden. Auf gesellschaftlich-systemischer Ebene sollten wir uns alle dafür einsetzen. Denn unsere Kinder sind das Kostbarste, was wir haben, sie sind die Zukunft. Deshalb sollten für das komplexe System Schule sehr viel mehr Ressourcen bereitgestellt werden. Auf Schulebene können Schulen gesundheitsförderliche Veränderungen etablieren und beispielsweise nach den Belangen psychischer Gesundheit ausgerichtete Lernformate und Schulkonzepte fördern. Neben externen Unterstützungsangeboten kann dazu die gesamte Schulgemeinschaft aktiv zum Gelingen beitragen. Es gibt hierzu viele Möglichkeiten, die je nach Schulform, Jahrgang und lokalen Gegebenheiten unterschiedlich sein können. Die Herausforderung besteht darin, Handlungsspielräume zu identifizieren und zu nutzen. Maßnahmen individueller und systemischer Stressbewältigung und Psychoedukation sollten bereits ab der ersten Klasse vermittelt werden. Gerade in den aktuellen Multikrisenzeiten ist es wichtig, auf allen drei Ebenen – gesellschaftlich-systemisch, schulisch und individuell – aktiv zu werden.
Was können Eltern tun?
Eltern können ihren Kindern vor allem Gelassenheit im Hinblick auf das Thema Schule vermitteln. Schule ist nicht alles und Umwege gehören zum Leben dazu. Eltern können ihrem Kind vermitteln: „Deine Schulnoten definieren nicht, wer du bist, sie machen dich nicht aus.“ Es stärkt Kinder und Jugendliche, wenn sie mit ihren Stärken gesehen werden und Eltern diese anerkennen und benennen, wie zum Beispiel: „Du bist fröhlich, hilfsbereit, kreativ, tierlieb.“ Indem sie eher Wert auf individuelle Entwicklung und Anstrengung legen, statt auf Noten zu fokussieren, können Eltern Leistungsdruck reduzieren, eine positive Fehlerkultur fördern und so den Lernprozess unterstützen. Eltern können ihre Kinder unterstützen, Selbstwirksamkeit, Sinnerleben und Handlungskompetenz aufzubauen. Eltern können soziale Interaktionen fördern und gemeinsame positive Erinnerungen schaffen. Und sie können Vorbilder sein, indem sie eine gute Freizeit- und Pausenkultur vorleben. Eltern sollten ihren Kindern Zeit und Raum für das geben, was sie nun mal sind: Kinder und Jugendliche, die sich ausprobieren wollen, sollen und dürfen. Am wichtigsten erscheint mir jedoch ein entspannter Umgang mit dem Thema Schule, frei nach dem Motto: Es ist doch nur Schule.