Ein Truppenbesuch in schweren Zeiten
Frank-Walter Steinmeier hat eine Mission. In diesem Jahr, in dem das Grundgesetz 75. Geburtstag feiert, die Deutsche Einheit 35 wird, möchte er nicht nur die Jubiläumsreden halten. Das Staatsoberhaupt will die Demokratie feiern, zusammen mit seinem Volk. Aber geht das überhaupt noch? Oder sind die Fliehkräfte längst zu stark? Am Mittwoch stellte Steinmeier in Schloss Bellevue seinen druckfrischen Essay „Wir“ vor. Drei Buchstaben, ein kurzer Titel. Ein schwieriges, oft genug missbrauchtes Wort. „Wie kann es gelingen, wieder ‚wir‘ zu sagen?“, fragt Steinmeier in einem zeitgleich zum Essay publizierten Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Die abgeklärte Selbstgewissheit, mit der wir noch vor einigen Jahren die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gefeiert haben, ist verschwunden“, konstatiert der Präsident. Sein Rezept: „Wir brauchen einen neuen Patriotismus“.
Schwer zu sagen, ob es reiner Zufall ist, dass Steinmeier nur einen Tag nach der Buchvorstellung in Berlin nach Munster reist – zur Bundeswehr am größten Standort des Deutschen Heeres, quasi ins patriotische Herz der Republik. Zu Menschen, die bereit sind, ihr Leben zu geben für ihr Land. Der Bundespräsident besuchte die Panzertruppenschule und den Truppenübungsplatz. Dort wurde dem hohen Gast ein militärisches Übungsszenario mit Kampfpanzern, Drohnen und ganz viel Kunstnebel dargeboten. Brigadegeneral Björn Schulz, Standortältester und Kommandeur der Panzertruppenschule, erläuterte dem Zivilisten die Bedeutung der gezeigten Ausbildungsinhalte.
„Sicherheit ist keine Selbstverständlichkeit mehr“
Anschließend gab es verschiedene Gesprächsformate. Großen Raum nahmen im Besuchsprogramm die Heimatschutzkräfte ein. Das im vergangenen Jahr in Dienst gestellte teilaktive Heimatschutzregiment 3 aus Nienburg präsentierte sich und stellte den Schutz einer Patriot-Flugabwehrraketenstaffel nach. In den Kompanien des Heimatschutzes engagieren sich vor allem Reservisten. Sie haben zivile Brotberufe und dienen daneben freiwillig in der Bundeswehr. „Um die Heimat, um Deutschland, mit zu schützen“, wie Oberst Manfred Schreiber vom aktiven Heimatschutzkader erläuterte.
In einem abschließenden Statement bekräftigte Steinmeier die deutsche Solidarität mit der Ukraine. Der russische Angriffskrieg habe die Sicherheitslage in Europa dramatisch verändert. „Sicherheit ist auch für uns keine Selbstverständlichkeit mehr.“
Begleitet vom Munsteraner Bundestagsabgeordneten Lars Klingbeil und Brigadegenral Björn Schulz absolvierte Frank-Walter Steinmeier mehrere Stationen auf dem weitläufigen Militärgelände in Munster. Er gab sich nahbar, suchte das Gespräch mit Soldatinnen und Soldaten und aß zusammen mit ihnen am Stehtisch ein Süppchen. In anderen Zeiten wäre es wohl ein harmlos-harmonischer Truppenbesuch geworden. Die angespannte Sicherheitslage in Europa und im Nahen Osten lag jedoch über allen schönen Bildern, die sich an diesem kalten Sonnentag in Munster darboten. Der Bundespräsident lächelte freundlich, wirkte dabei ernst und besorgt. „Seit zwei Jahren führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine“, begann er seine kurze Rede vor Journalisten und Militärangehörigen. „Seit zwei Jahren sterben in der Ukraine Zehntausende von Menschen, Soldatinnen und Soldaten, Zivilisten. Die Infrastruktur großer Teile des Landes ist zerstört.“
In seinen Gesprächen zuvor war es dem Vernehmen nach vor allem um die Soldatenausbildung am Standort Munster gegangen. Der Gast aus Schloss Bellevue betonte, dass der Fokus der Bundeswehr aufgrund der veränderten Weltlage zurecht wieder auf der Landes- und Bündnisverteidigung liege. Von deutscher Sicherheit, die am Hindukusch oder sonstwo in der weiten Welt verteidigt werden müsse, war in Munster keine Rede mehr – die Zeitenwende ist auch eine Wende der Rhetorik und Prioritäten. „Wir brauchen eine starke Bundeswehr und gut ausgebildetes Personal“, sagte Steinmeier – und gab sich diesbezüglich zuversichtlich. „Ich konnte mich in Munster davon überzeugen, dass das neueste Material und die neuesten Waffensysteme der Panzertruppenschule hervorragend sind“, so Steinmeier. Der Bundespräsident hob die hohe Motivation der Soldaten am Heeresstandort in der Heide hervor. „Die ist notwendig und wird gebraucht, auch von unseren Bündnispartnern.“ Die dauerhafte Verlegung einer Brigade nach Litauen sei ein Beispiel dafür. Viele der ins Baltikum entsendeten Kräfte wurden auch in Munster ausgebildet. „Deshalb können wir sicher sein, dass gut ausgebildete Soldatinnen und Soldaten nach Litauen gehen.“
Auch das Szenario eines Krieges auf Nato-Territorium oder sogar Deutschland – vor wenigen Jahren noch schwer vorstellbar – fand sich in den Ausführungen des Staatsoberhauptes wieder. In so einem Fall käme den Heimatschutzregimentern der Bundeswehr eine herausragende Bedeutung zu, hob Steinmeier hervor. „Heimatschutzkräfte sind in der Lage, die Infrastruktur und wichtige Einrichtungen in unserem Land zu schützen.“ Er habe in seinen Gesprächen auf dem Truppenübungsplatz gerade auch bei diesen freiwilligen Kräften eine sehr hohe Motivation wahrgenommen. „Für diese Bereitschaft zum Engagement bin ich dankbar“, erklärte das Staatsoberhaupt.
Freiwilliges Engagement für die Gesellschaft und die Demokratie ist das vielleicht bestimmendste Thema dieser Präsidentschaft. Schon vor Jahren warb Steinmeier für ein soziales Pflichtjahr, in Munster bekräftigte er auf Nachfrage seine diesbezüglichen Sympathien. Dass sich der Fokus inzwischen stark auf den Wehrdienst richtet, empfindet er offenbar nicht als Widerspruch zur ursprünglichen Idee, die eher den Einsatz für Pflegebedürftige oder im Naturschutz im Blick hatte. „Natürlich“ könne er sich vorstellen, beide Ansätze miteinander zu verschmelzen, ließ Steinmeier wissen. Konkreter wurde er nicht – auch der politische Präsident Steinmeier kennt die Grenzen seines überparteilichen Amts. Er verwies auf Verteidigungsminister Boris Pistorius. Dieser werde zeitnah einen Vorschlag auf den Tisch legen.