Begegnung mit einem Serienmörder?

Spurensuche in Soltau: Privatermittler Reinhard Chedor und Alexandra Schade vor dem Gebäude, in dem sich 1990 das Gasthaus Zur Post befand. Foto: Eggeling

War Kurt-Werner Wichmann einer der größten Serienmörder der deutschen Kriminalgeschichte? Fest zugerechnet werden dem Lüneburger, der sich vor fast genau 30 Jahren in Untersuchungshaft erhängte, bislang zwei Doppelmorde an Liebespaaren im Staatsforst Göhrde im Sommer 1989 sowie die Tötung der Millionärsgattin Birgit Meier, die im gleichen Jahr spurlos verschwand und deren sterbliche Überreste 2017 unter dem Betonboden des langjährigen Wohnhauses von Wichmann entdeckt worden waren. Möglicherweise sind die fünf Morde aber nur die Spitze des Eisbergs. Bundesweit gibt es fast 100 ungeklärte Vermisstenfälle und Tötungsdelikte an Frauen, bei denen über eine Täterschaft Wichmanns spekuliert wird. Bekannt ist, dass er große Strecken mit dem Auto zurücklegte. Auch seinen Wohnort wechselte er zwischenzeitlich. Im Umfeld seiner Lebensmittelpunkte kam es immer wieder zu bis heute ungeklärten Frauenmorden. Eine „Kette des Schreckens“, so der NDR.

Sollten sich die Spekulationen auch nur teilweise bestätigen, müsste man für den „Göhrde-Mörder“ wohl einen anderen Namen finden. Der NDR schlägt „Menschenjäger“ vor. Im Dreiteiler „Der Menschenjäger – Eiskalte Spur“ zeichnet der Sender das Bild eines rastlosen Sextäters, ständig auf der Suche nach Frauen, die er bedrängt, einschüchtert, tötet. Die Dokumentation ist in der ARD-Mediathek abrufbar und wird in der Nacht zu kommenden Freitag ab 1.15 Uhr im NDR noch einmal in voller Länge ausgestrahlt. In der Abschlussfolge sind auch Filmaufnahmen aus dem Heidekreis zu sehen. Geschildert wird eine unheimliche Begebenheit aus dem Jahr 1990. Ging Wichmann im nördlichen Heidekreis auf Menschenjagd?

„Wir gehen davon aus, dass er in Diskotheken aus der gesamten Region unterwegs gewesen ist, auch in Hützel“, sagt Carlo Eggeling im Gespräch mit der Böhme-Zeitung. In dem Heide-Örtchen nahe der Kreisgrenze befand sich damals der legendäre Tanzschuppen Welcome, der, wie auf den Internetseiten des örtlichen Kulturvereins nachzulesen ist, ein großes Einzugsgebiet hatte: „Die Leute kamen überall her: Soltau, Walsrode, Rotenburg und Celle, aber auch Lüneburg, Buchholz, Hamburg und Buxtehude.“

Der freie Journalist Eggeling verfolgt Wichmanns Spuren seit Jahren und ist Teil eines interdisziplinären Kernteams, dessen Ermittlungsarbeit im Zentrum des NDR-Dreiteilers steht. Akribisch gehen der pensionierte Polizeiermittler Reinhard Chedor, der ehemalige Leiter der Hamburger Rechtsmedizin Klaus Püschel und die Journalisten Anne Kunze und Eggeling Spuren nach und setzen Puzzleteile zusammen. Über allem liegt der Vorwurf, Staatsanwaltschaften agierten zu behäbig und verfolgten erfolgsversprechende Ermittlungsansätzen nicht mit der gebotenen Hartnäckigkeit. Eine wichtige Quelle, um Licht ins Dunkel zu bringen, sind Zeugen. Zum Beispiel Frauen, die mutmaßlich in Wichmanns Visier gerieten und die Begegnung überlebten. Wie Alexandra Schade.

Schade arbeitet 1990 als Kellnerin im Restaurant Zur Post in Soltau (heute Postillion) und trägt aus dieser Zeit eine Erinnerung mit sich herum, die sie nie vergessen, aber lange Zeit nicht recht einordnen konnte. Erst als sie ein Bild von Wichmann sieht und von seinem Fall liest, fügt sich ihr unheimliches Erlebnis scheinbar in ein größeres Bild ein. Wichmann wird nicht nur mit dem bis heute ungeklärten Verschwinden zahlreicher Frauen, oft Anhalterinnen, in Verbindung gebracht. Er steht ebenso in Verdacht, Frauen beobachtet und belästigt, ihnen Angst gemacht zu haben. Manchmal soll er in Wohnungen eingebrochen sein. Schade ist sich beim Ansehen des Bildes sofort sicher: Das ist der Mann mit dem irren Blick, der ihr 1990 mit dem Auto nachgestellt hat. „Sie konnte damals deutlich sein Gesicht erkennen und es erinnerte sie an ihren Onkel Willi“, sagt Eggeling. Dieser Onkel weise eine frappierende Ähnlichkeit zu Wichmann auf.

Verfolgungsjagd auf der Landstraße

Der Vorfall ereignete sich in einer Sommernacht. Schade plaudert nach Feierabend noch mit ihren Kollegen, man trinkt etwas zusammen. Dann steigt sie allein in ihren VW, um nach Lünzen zu fahren, wo sie gemeinsam mit ihrem damaligen Mann lebte. Plötzlich bemerkte die damals 39-Jährige Scheinwerfer im Rückspiegel, ein Auto fährt dicht hinter ihr ohne zu überholen. Auch nicht nach einem Wildwechsel, der Schade abbremsen lässt. Es kommt ihr seltsam vor. Wegen ihrer Arbeit ist sie oft spät auf den zu dieser Zeil einsamen Landstraßen des Heidekreises unterwegs und sensibilisiert. Eggerling schildert, was Schade berichtete und stark komprimiert auch in der NDR-Dokumentation nacherzählt wird. Demnach treibt der Unbekannte eine Art Spiel, lässt sich mit seinem Fahrzeug zurückfallen, biegt ab, ist dann wieder da. Schade bekommt das Gefühl, er kenne ihr Ziel genau und wisse, welche Strecke sie zu fahren hat.

Bei Neuenkirchen verschwindet das Auto, nur um an der nächsten Straßenkreuzung wieder aufzutauchen. Schade ist jetzt so verunsichert, dass sie bei Tewel abbiegt und ihr Fahrzeug vor dem Haus eines Bekannten im Licht einer Straßenlaterne zum Stehen bringt. Durchatmen, die Gedanken ordnen. Da taucht er wieder auf, diesmal ganz nah. Steuert sein Auto direkt an das von Schade heran und blickt hinein. Dann gibt er Gas und verschwindet in der Nacht. Die Frau ist extrem verängstigt, sitzt wie erstarrt in ihrem Auto. Handys gibt es noch keine. Zurück nach Soltau? Die Bekannten bei Tewel aus dem Bett klingeln? Nach einer Weile fährt sie weiter, ohne Licht bis nach Grauen, wo ein befreundetes Paar lebt. Schade trifft es an und berichtet, was geschehen ist. Der Bekannte begleitet sie anschließend sicher nach Hause. Dort der nächste Schock: Die in Grauen zurückgebliebene Partnerin ruft an und berichtet von einem Unbekannten, der ums Haus schleiche und jaule wie ein Wolf. Der Mann rast zurück.

Schade lebt nicht mehr im Heidekreis. Ihr gruseliges Erlebnis vor mehr als drei Jahrzehnten könnte ein Mosaikstück sein in einem komplexen Fall. Bislang ist es die erste und einzige Spur, die in den Heidekreis führt. Laut Eggeling kannte Wichmann die Gegend, habe zeitweilig für einen Baustoffhändler das Verkaufsgebiet Soltau betreut. Bedeutet das etwas? Wo verläuft die Grenze zwischen Indizien und Zufällen?

Suche nach weiteren Zeugen

Mord- oder Vermisstenfälle aus dem Heidekreis werden Wichmann nicht zugerechnet. Er könnte aber durch Bedrohungen, Nachstellungen oder sexuelle Übergriffe aufgefallen sein. Eggeling hofft, dass sich weitere Menschen melden und von Begegnungen mit dem mutmaßlichen Serienmörder berichten. Vieles aus dem Leben des einzelgängerischen ehemaligen Friedhofsgärtners ist immer noch rätselhaft. Auch die große Frage, wer sein Komplize gewesen sein könnte und ob dieser noch am Leben ist. Die Polizei geht von einem Mittäter aus. In der NDR-Reportage berichtet eine Zeugin von einem Vorfall als Anhalterin im Landkreis Cuxhaven, bei dem ein Fahrer und ein Beifahrer mit ihr und einer Freundin auf dem Rücksitz unvermittelt in ein Waldstück einbiegen. Die jungen Frauen sind damals wohl nur knapp einer Vergewaltigung entgangen. Der Beifahrer soll Wichmann gewesen sein.

Wer sich an Erlebnisse im Heidekreis von 1990 oder früher erinnert, die im Zusammenhang mit Wichmann stehen könnten, kann sich vertraulich an die Böhme-Zeitung wenden oder per E-Mail direkt an Eggeling (carloeggeling@web.de).