Das Jahr der zwei Soldatenmorde
Auf den Bronzetafeln im Buch des Gedenkens im Ehrenmal am Rande des Bendlerblocks stehen sie ganz eng beieinander. Hier, am Berliner Sitz des Verteidigungsministeriums, ehrt die Bundeswehr zivile und militärische Angehörige, die in Erfüllung ihrer Dienstpflicht ums Leben kamen. Rund 3400 Personen, eine unübersichtlich lange Liste individueller Schicksale. Doch die Namen Ekkehard Dell und Michael Gelzenleuchter trennt ein einziger Eintrag. Nur ein Ronny Eckhardt hat sich zwischen sie geschoben. Zufall? Ja, natürlich. Ihr gemeinsames Todesjahr und das Alphabet haben die beiden Männer, die sich im Leben wohl nie begegnet sind, im Gedenkbuch posthum aneinander rücken lassen. Man muss die Geschichten hinter ihren Namen kennen, um darin etwas Symbolhaftes zu erblicken.
Dell und Gelzenleuchter sind weder gefallen noch verunglückt. Sie wurden in ihren Kasernen erschossen. Dell war ein junger Obergefreiter, als er am 29. Februar des Schaltjahres 1992, auf den Tag genau vor 32 Jahren, während seiner Nachtwache in der Munsteraner Hindenburgkaserne durch drei gezielte Schüsse aus nächster Nähe regelrecht hingerichtet wurde. Ein Täter konnte nie ermittelt werden, das Verbrechen ist bis heute unaufgeklärt. Bekannt ist, dass der Mörder von außen kam und sein 21-jähriges Opfer tötete, unmittelbar nachdem dieser ihm die schwere Tür zum Bundeswehrgelände aufgeschlossen hatte.
Unteroffizier Gelzenleuchter starb am 18. November des gleichen Jahres, ebenfalls während seiner Nachtwache, in der damaligen Steuben-Kaserne in Gießen. Auch er wurde erschossen, auch in diesem Fall kam der Mörder von außen und beging seine Tat ausgerechnet auf einem bewachten Bundeswehrgelände. Der zweite Soldatenmord binnen eines Jahres sorgte auch in Munster für Aufsehen, wie sich Zeitzeugen erinnern. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Verbrechen konnte aber nie belegt werden. Das Gießener Verbrechen wurde schnell aufgeklärt. Der Täter, ein 26-jähriger Drucker aus Gießen, beging noch auf dem Kasernengelände Suizid. Aber was heißt das schon, „aufgeklärt“? Der Tod schließt die Akten, lautet ein geflügeltes Juristenwort. Dadurch seien viele Fragen ungeklärt geblieben, beklagt der Sohn des Mordopfers im Gespräch mit der Böhme-Zeitung.
„Habe den Verdacht, dass mehr dahinter steckt"
Maurice Gelzenleuchter hat keine eigenen Erinnerungen an seinen im Alter von gerade einmal 28 Jahren ermordeten Vater. Er war noch ein Baby, als sich die Tat ereignete und der Familie einen Schock versetzte, von dem sie sich nie mehr ganz erholte. Schon als Kind habe er gespürt, dass es etwas Unausgesprochenes gab, ein schwarzes Loch in der Familie. „In der Grundschule wurden die anderen Kinder von ihren Papas abgeholt“, erinnert er sich an die schwierige Zeit der vielen Fragen, auf die er keine Antwort wusste. An das Mobbing seiner Mitschüler. „Meine Oma hätte am meisten erzählen können, doch sie fing bei dem Thema immer zu weinen an.“ 2013 verstarb sie, ohne mit ihrem Enkel einmal über ihren Sohn gesprochen zu haben. „Die hat das mit ins Grab genommen“, sagt Maurice Gelzenleuchter.
Die Verstorbene hinterließ einen Ordner mit gesammelten Zeitungsartikeln zum Mord an ihrem Sohn. In den Presseveröffentlichungen ist nachzulesen, dass das Motiv des Täters nebulös blieb. Er sei der Polizei wegen kleinerer Diebstähle bekannt, ansonsten aber ein unbeschriebenes Blatt gewesen. Ein politisches Motiv konnte schnell ausgeschlossen werden. In der Tatnacht schnitt der mit einer Pumpgun bewaffnete Mann ein Loch in den Militärzaun und gelangte so unerkannt auf das Bundeswehrgelände. Dort versteckte er sich, wurde aber durch einen Soldaten in zivil entdeckt und angesprochen. Der Täter nahm den jungen Gefreiten daraufhin als Geisel und näherte sich mit ihr dem besetzten Wachhaus. Als die Wachsoldaten das durch ein Fenster bemerkten, feuerte der 26-Jährige auf das Gebäude. Michael Gelzenleuchter starb im Kugelhagel, ein weiterer Wachsoldat überlebte schwer verletzt. „Türen und Fenster waren nur an der Außenseite schusssicher, mit einem Angriff von innen hat wohl niemand gerechnet“, sagt Maurice Gelzenleuchter. Eine fatale Sicherheitslücke, wie er findet.
Einsicht in die vollständigen Ermittlungsakten habe er nie erhalten, erklärt der Sohn des Ermordeten. Mit den wenigen bekannten Fakten lässt sich kein schlüssiges Bild vom Täter und seinen Beweggründen zeichnen. Fragen nach möglichen Hintermännern und Mitwissern blieben unbeantwortet. „Das Motiv liegt vielleicht in seiner Persönlichkeit“, wurde der zuständige Oberstaatsanwalt in der Gießener Allgemeinen Zeitung zitiert. Vage Aussagen, mit denen sich Maurice Gelzenleuchter auch mehr als 30 Jahre nach der Tat nicht zufrieden geben mag. Die volle Wahrheit zu erfahren – das ist Opfern und Angehörigen, die die Folgen schwerer Verbrechen zu verarbeiten haben, oft ein wichtiges Anliegen. Offene Fragen können quälen, das Gedankenkarussell immer weiter am Laufen halten. „In der Familie hat jeder seinen eigenen Weg gefunden, damit umzugehen“, sagt Maurice Gelzenleuchter. Er selbst wollte anfangs in die Fußstapfen seines Vaters treten und ging zur Bundeswehr. Das habe bei seiner Großmutter zu einem Zusammenbruch geführt. Zweimal nahm er Anlauf bei der Truppe. Beide Male verließ er sie bald wieder. Heute arbeitet er für ein Unternehmen der Pharmabranche.
„Ich finde das alles sehr merkwürdig“, sagt Maurice Gelzenleuchter beim Blick auf das Verbrechen, das kurz nach seiner Geburt geschah und ohne dem sein Leben wie auch immer, jedenfalls ganz anders verlaufen wäre. „Ich habe den Verdacht, dass mehr dahinter steckt als bekannt geworden ist.“ Eine Verbindung mit dem Soldatenmord in Munster hält er für denkbar. „Weiß man alles nicht.“