Ein großes Rätsel
Als der öffentliche Teil der Sitzung endete, rang Gerd Engel um einige aufmunternde Worte. Er hob die große Zahl der Bürgerinnen und Bürger hervor, die sich als Zuschauer eingefunden hatten, und bedankte sich dafür, trotz veränderter Mehrheitsverhältnisse Vorsitzender des Munsteraner Stadtrats bleiben zu dürfen. Die neue SPD-Mehrheitsfraktion hätte das Amt für sich beanspruchen können, sprach dem Christdemokraten, der die CDU-Fraktion verlassen und sich der neuen Formation „Munster-Union“ angeschlossen hat, aber ihr Vertrauen aus. Engel wünschte allen Anwesenden, dass das noch junge Jahr für Munster ein gutes werden möge. Bislang ist es das nicht – wenigstens in diesem Punkt dürfte an diesem Abend Einigkeit geherrscht haben. „Wie die allgemeine Stimmung in der Stadt ist, dazu muss ich nichts mehr sagen“, konstatierte der Ratsvorsitzende. „Die ist heute sehr deutlich geworden.“
Die außerordentliche Sitzung des Stadtrates Munster war notwendig, weil die Spaltung der CDU-Fraktion die Neubesetzung der Ausschüsse erforderte. Die Tagesordnung las sich wie eine Anleitung für die Ausrichtung einer unspektakulären Veranstaltung. Ausschusssitze waren neu zu vergeben, unter bekannten Ratspolitikern, die jetzt nur andere Parteikürzel hinter ihren Namen haben – insbesondere MU statt CDU. Das Prozedere zog sich etwas, weil die ehemaligen Fraktionskollegen sich – natürlich – nicht im Vorfeld einigen konnten, welche der beiden siebenköpfigen Fraktionen in welchem Ausschuss den jeweils dritten Sitz bekommen soll. So musste das Los entscheiden.
Bürgermeister: Keine Entschuldigung im Stadtrat
Die zahlreich erschienen Zuschauer – alle Stuhlreihen und sogar die Treppenstufen hinauf in den Lesesaal waren besetzt – hatten sich selbstverständlich nicht wegen der Neubesetzung von Ausschüssen auf den Weg gemacht. Sie erhofften sich Auskunft zu einem Thema, das nicht auf der Tagesordnung stand und inzwischen so viele Verästelungen hat, dass es schwer auf einen Begriff zu bringen ist. Der Konflikt um den Umgang des Bürgermeisters mit der Feuerwehr stand wie der sprichwörtliche Elefant im Raum. Würde Bürgermeister Ulf-Marcus Grube sich dazu äußern, sein bislang nur in Form einer dürren Pressemitteilung öffentlich gemachtes Bedauern in gesprochene Worte fassen? Eine persönliche Erklärung abgeben, sich gar entschuldigen? Er tat es nicht. Zur Sprache kam der Konflikt, der die Stadtpolitik seit Monaten beschäftigt und lähmt, aber trotzdem – verpackt in Bürgerfragen, Anmerkungen und vor allem den Ausführungen des Ratsvorsitzenden.
Engel beklagte die Verrohung demokratischer Sitten. Protokolle nicht öffentlicher Sitzungen würden verbreitet, anonyme Briefe verschickt und über soziale Medien Verdächtigungen gestreut. Er selbst habe, wie die sechs anderen Mitglieder der neuen MU-Fraktion, einen Brief erhalten, in dem hämisch der Eintritt in die SPD empfohlen wird. Im Schreiben ist von einem „Schmierentheater“ die Rede. Wer „gemeinsame Sache mit der SPD-Fraktion“ mache, solle die CDU verlassen. So gehen Parteifreunde in Munster inzwischen miteinander um. Es gibt sogar Bestrebungen, die abtrünnigen Ratsleute mittels Ausschlussverfahren aus der Partei zu drängen (BZ vom 27. Januar).
Neuer Streitpunkt zwischen Grube und der Ratsmehrheit ist die Frage, seit wann der Bürgermeister das Urteil des Bundesfinanzgerichtshofs kennt, aus dem hervorgeht, dass die Vorwürfe gegen die Feuerwehr von Beginn an juristisch haltlos waren. SPD-Ratsherr Michael-Carsten Aulenbach verwies auf eine Videokonferenz vom 12. Dezember, an der Grube teilgenommen und in der das Urteil Erwähnung gefunden habe. Das hieße: Der Verwaltungschef ließ sieben Wochen verstreichen, bevor er die Öffentlichkeit am 3. Februar informierte, dass die von ihm beanstandete Barspenden-Buchungspraxis der Feuerwehr juristisch korrekt gewesen ist. Grube räumte ein, dass das Urteil in der besagten Konferenz kurz angesprochen wurde. „Final“ sei er aber erst am 18. Januar informiert worden. Dieser Komplex dürfte die Stadtpolitik noch länger beschäftigen und war auch Thema im nicht öffentlich tagenden Verwaltungsausschuss. Es gibt hier große Wertungs- und Meinungsverschiedenheiten, nicht zuletzt zwischen dem Bürgermeister und dem Ratsvorsitzenden.
„Es wurde viel Dreck geworfen“
Ganz ohne Unterstützung im Rat steht Grube nicht da. Die geschrumpfte CDU-Fraktion würde gerne einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Vorgänge ziehen und verwahrte sich dagegen, für Äußerungen Einzelner kollektiv in Haftung genommen zu werden. So versöhnlich sie sich gegenüber dem Bürgermeister zeigen, so allergisch reagieren einige CDU-Ratsleute auf die Munster-Union. Der Bruch hatte wohl auch etwas mit der Hierarchie innerhalb der alten Fraktion zu tun. Auffällig ist, dass ausgerechnet die Alpha-Tiere der Fraktion abgesprungen sind, darunter Fraktionschef Stefan Sorge und der ehemalige CDU-Kreisvorsitzende und amtierende Ratsvorsitzende Engel. „Transparent und inklusiv“ hätte die Fraktion über die mögliche Unterstützung eines Abwahlverfahrens gegen den Bürgermeister beraten sollen, sagt CDU-Ratsherr Michael Neumann. „Das ist leider nicht geschehen.“ Sechs Fraktionsmitglieder seien übergangen worden.
„Es wurde viel Dreck geworfen“, räumt Neumann eine „unschöne Trennung“ ein. Dass Wunden geblieben sind, trat zutage, als er in Richtung von Sorge giftete, die Munster-Union solle sich lieber „Sorge-Einheitsfraktion“ nennen. Darauf müsse er nicht antworten, wandte sich der Ratsvorsitzende an seinen Fraktionskollegen in der ersten Reihe. Kurz sah es so aus, als wolle Sorge zum rhetorisch Gegenschlag ausholen. Dann wäre die latent aggressive Stimmung wohl in eine Schlammschlacht ausgeartet. Soweit kam es nicht. Aber wie Stadtrat und Bürgermeister unter den gegebenen Bedingungen zur vertrauensvollen Sachpolitik zurückfinden wollen, blieb an diesem Abend ein großes Rätsel.