„Irgendeine Art von Disruption kommt auf uns zu“
In der Bibliothek Waldmühle blieben viele Plätze unbesetzt. Dabei hatte die VHS Heidekreis einen Bestseller-Autor eingeladen und ein großes Thema aufgerufen: die Bedrohung der Demokratie durch autoritäre Populisten. Eigentlich ein spannendes und nach den jüngsten Wahlerfolgen der extremen Rechten in drei ostdeutschen Bundesländern und dem Triumph von Donald Trump in den USA bedrückend aktuelles Thema. Aber wohl auch eines, das inzwischen viele Menschen ermüdet. Nach den gewaltigen bundesweiten Demonstrationen für den Erhalt der liberalen Demokratie zum Jahresbeginn ist allenthalben Ernüchterung eingekehrt. Auch im lokalen Bündnis gegen Rechts (BgR), dessen Mitinitiator Birhat Kaçar jüngst in dieser Zeitung die zunehmende Normalisierung rechtsextremer Positionen und Parteien beklagte (BZ vom 22. Oktober: „Der ‚Marathonlauf‘ soll weitergehen“). In der Waldmühle machte Maximilian Steinbeis deutlich, dass diese Entwicklung kein Zufall sei. Sie entspreche einer Art Drehbuch, nach dem populistische und rechtsextreme Bewegungen in vielen Ländern äußerst erfolgreich demokratische Systeme aushöhlten. In Deutschland sei es noch nicht zu spät, diesen Prozess aufzuhalten. Doch die Zeit dränge. „Es passiert nicht irgendwann, es passiert jetzt“, warnte Steinbeis vor zu großer Gelassenheit.
Steinbeis setzt sich seit langem mit der Krise der liberalen Demokratien auseinander. Sein Blick als Jurist und streitbarer Verfassungsexperte ist analytisch und durchaus kleinteilig. Zugleich versteht er es als auflagenstarker Schriftsteller („Mit Rechten reden: Ein Leitfaden“) und ehemaliger Handelsblatt-Journalist aber auch, seine Thesen pointiert und allgemeinverständlich zu formulieren. Bekannt wurde er durch das von ihm 2009 gegründete Verfassungsblog im Internet. Dort veröffentlichen Autorinnen und Autoren Debattenbeiträge zu verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Fragestellungen. In Soltau hatte er sein im Verlag Hanser erschienenes neues Buch „Die verwundbare Demokratie“ im Gepäck, in dem, so der Untertitel, „Strategien gegen die populistische Übernahme“ entworfen werden. Im Gespräch mit dem Lehrer und CDU-Kreisvorsitzenden Timo Albeshausen und dessen Mutter Uta Paschke-Albeshausen, Journalistin und VHS-Projektleiterin, entwarf Steinbeis ein längst nicht mehr abwegiges politisches Szenario: Was passiert, wenn die AfD weiter wächst und ein Regieren gegen sie irgendwann nicht mehr möglich sein wird?
Es ist keine Machtübernahme wie aus dem Geschichtsbuch, die an diesem Abend als Möglichkeit erörtert wurde, der Untergang der Weimarer Republik kam kein einziges Mal zur Sprache. Steinbeis ist kein Historiker, seine Referenzpunkte liegen in der Gegenwart. In Ungarn und Polen, bei Le Pen und Trump. Und auch, eine Nummer kleiner, in Thüringen. Dort habe man es versäumt, die demokratischen Institutionen rechtzeitig sturmfest zu machen. „Jetzt ist es zu spät, die AfD hat im Landtag eine Sperrminorität.“ Damit kann die in Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei auch aus der Opposition heraus wichtige Entscheidungen blockieren, zum Beispiel die Neubesetzung von Richterstellen am Landesverfassungsgericht. „Ein sehr mächtiges Erpressungsinstrument“, wie Verfassungsrechtler Steinbeis in seinem Buch ausführt. Die demokratischen Parteien hätten dem in der vergangenen Legislatur durch eine einfachgesetzliche Neuregelung vorbeugen können, konnten sich aber nicht darauf verständigen. Auch der denkwürdige Auftritt des AfD-Abgeordneten Jürgen Teutler, der sein eigentlich rein repräsentatives Amt als Alterspräsident des Landtags während der konstituierenden Sitzung dazu nutzte, Chaos zu erzeugen und die Parlamentsarbeit ins Lächerliche zu ziehen, hätte verhindert werden können, dafür hätte schon eine bloße Änderung der Geschäftsordnung ausgereicht.
„Die Verfassung wird uns nicht retten“
Für den kommenden Bundestag deutet sich trotz einer möglicherweise noch einmal stärkeren AfD-Fraktion keine mit den ostdeutschen Landesparlamenten vergleichbare Situation an. Das gebe den Mitte-Parteien Zeit, demokratische Institutionen wie die Bundesgerichte oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk resilienter aufzustellen, so Steinbeis. Im Gespräch schimmerte immer wieder sein eigenes Verhältnis zum Grundgesetz durch, das eher nüchtern zu sein scheint. „Das deutsche Vertrauen in die Verfassung ist trügerisch“, sagt er an einer Stelle. „Sie wird uns nicht retten, wir müssen sie retten“, stellt er klar und wirbt für einen von der Gesellschaft getragenen „zivilen Verfassungsschutz“. Den staatlichen Verfassungsschutz bewertet er dagegen kritisch, nach seiner Einschätzung nutzen die Dienste ihren Einfluss, um die Politik von einem Verbotsverfahren gegen die AfD abzuraten. Nicht so sehr wegen mangelnder Erfolgsaussichten, mutmaßt Steinbeis, sondern wegen eines gewissen „institutionellen Interesses am Erhalt ihres Beobachtungsobjekts“.
Die alte Stabilität kehrt nicht zurück
An solchen Stellen hätte man sich eine auch kontroverse Diskussion vorstellen und wünschen können, doch diese blieb weitgehend aus. Stattdessen lag eine gewisse Ratlosigkeit über dem Abend, manche Wortbeiträge aus dem Publikum klangen resigniert. Moderator Albeshausen versuchte mehrmals, dem Gast hoffnungsvolle Prognosen zu entlocken, doch das klappte nicht so recht. Auch wegen der USA-Wahl, die Steinbeis als in ihren Auswirkungen noch gar nicht absehbar beschrieb. Aber so weit braucht man ja gar nicht zu gucken. „Es ist regelrecht wahrscheinlich, dass Marine Le Pen in zwei Jahren Frankreichs Präsidentin wird“, warf der Autor einen Blick in eine ungewisse europäische Zukunft. Was aus Deutschland wird? „Irgendeine Art von Disruption wird auf uns zukommen“, erklärt Steinbeis. Die alten, politisch stabilen Zeiten würden nicht zurückkehren. Dafür sollte man auch nicht vergeblich kämpfen, rät er zu Veränderungsmut und zur Absage an einen „Konsenszwang“, bei dem jegliche Systemkritik dem rechten Rand überlassen wird. Die Probleme seien real und wären auch dann noch vorhanden, wenn es die Höckes, Orbans und Trumps dieser Welt nicht mehr gäbe. „Die autoritären Populisten sind nicht der Grund für die Krise. Sie bewirtschaften sie nur.“