Deutschland im Krieg?
Wer meint, das Kanzlerwort von der „Zeitenwende“ sei vielleicht doch etwas dick aufgetragen, wurde gestern in Bad Fallingbostel eines Besseren belehrt. Oberst Dirk Waldau, Kommandeur des Landeskommandos im „Bundeswehrland Nummer 1“ Niedersachsen, war auf Einladung des örtlichen Landtagsabgeordneten Sebastian Zinke ins Kurhaus gekommen, um über „sicherheitspolitische Entwicklungen in Deutschland und die Konsequenzen für die Bundeswehr und das zivile Umfeld“ zu sprechen. Der Gast malte ein düsteres Bild. „Deutschland lebt nur noch formalrechtlich in Frieden“, erklärte er gleich zu Beginn seines Vortrags.
Der Oberst aus der Landeshauptstadt wollte keinen Applaus. Er wolle eine Diskussion und auf Kritik eingehen, erklärte er. Doch obwohl durchaus Zuhörer mit bundeswehrkritischer Haltung ins Kurhaus gekommen waren, blieb Widerspruch aus. Das hatte auch mit dem Ort der Veranstaltung zu tun. Der Heidekreis beheimatet den größten Standort des deutschen Heeres, im Camp Oerbke ist gerade erst ein neues Logistikbataillon eingezogen, was die Kommune ausdrücklich begrüßt (BZ vom 27. September). Es war quasi ein Heimspiel für den Landeskommandeur. Viele Zuhörer hatten selbst einen Bundeswehr-Hintergrund und teilten die Einschätzungen des Redners. So entspann sich eine rege, aber wenig kontroverse Diskussion.
Dabei bemühte Waldau sich um „Klartext“ und sparte nicht mit drastischen Worten. Deutschland werde angegriffen und sei nicht in der Lage, sich angemessen zu verteidigen. Russland agiere im Cyberraum, verbreite Propaganda, spähe mit Drohnen Bundeswehrstandorte und zivile Objekte der Hafeninfrastruktur aus. Es gehe um Sabotage und auch die Anwerbung von Spionen. Diese finde etwa auf Dating-Plattformen statt, berichtete Waldau von Methoden, die an den Kalten Krieg denken lassen. Schon aus rechtlichen Gründen sei es schwer, sich gegen diese Art von Kriegsführung zu wehren. Das Grundgesetz setzt einen Angriff mit Waffengewalt voraus, damit Bundestag und Bundesrat den Verteidigungsfall feststellen können.
„Die Bundeswehr ist ein Low Performer“
Sollte ein solcher eintreten, sei Deutschland schlecht vorbereitet. „Die Bundeswehr ist ein Low Performer“, so Waldau mit Blick auf die Rolle, die die Wirtschaftsmacht Deutschland in der Welt spiele. Das Militärische hinke dem hinterher, man verlasse sich zu stark auf seine Verbündeten. Gemeint waren vor allem die USA. Dass diese künftig wieder von einem Präsidenten angeführt werden, der die Nato schon einmal als „obsolet“ bezeichnet hatte, war an diesem Abend noch ein bloßes Worst-Case-Szenario. Über Nacht ist es eingetreten. Werden die USA die Ukraine weiter mit Waffen unterstützen? Würde Trump Soldaten schicken, um Litauen zu verteidigen?
Waldau betonte das Primat der Politik und bemühte sich um Zurückhaltung. Doch der Kurs von Verteidigungsminister Boris Pistorius ist klar, und der Oberst skizzierte ihn: Deutschland muss demnach größere Verantwortung übernehmen und viel mehr Geld in die eigene Verteidigung investieren. Die Schuldenbremse werde fallen, egal wer künftig regiere. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Ertüchtigung der Armee sei nur ein erster Schritt. Um Verpflichtungen in der Nato gerecht zu werden und den „Operationsplan Deutschland“ für die Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit umzusetzen, benötige die Bundeswehr rund 460.000 Soldaten, so Waldau unter Verweis auf Generalinspekteur Carsten Breuer. Aktuell stehen rund 80.000 zur Verfügung. Wo die zusätzlichen Soldaten herkommen sollen, sei derzeit „nicht abbildbar“, musste Waldau einräumen. Die Debatte um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht werde weiter Fahrt aufnehmen, prophezeite er. Landespolitiker Zinke gab sich bei der Gelegenheit als Anhänger einer allgemeinen Dienstpflicht zu erkennen.
Eine personell verstärkte Bundeswehr hätte direkte lokale Auswirkungen. Da der Neubau von Kasernen zu zeitintensiv wäre, liegt der Fokus auf bereits bestehende Liegenschaften und Gebäude, die ertüchtigt werden müssten. Diesbezüglich hat der Heidekreis einiges zu bieten. Mit zusätzlichen Stationierungen in den kommenden Jahren sei zu rechnen, sagte Waldau.
Er beschrieb auch, wie sich das zivile Leben im Ernstfall verändern würde. Soldaten wären an den Außengrenzen eingesetzt, im Inland kämen große Herausforderungen auf die Landkreise als untere Katastrophenschutzbehörden zu. Der Einzelne sei gut beraten, Vorräte anzulegen.
Der Oberst kennt die Wirkung seiner Worte. „Wir haben die Hunde geweckt“, sagt er an einer Stelle. Es ist notwendig, über solche Szenarien zu sprechen, soll das wohl heißen. Zinke und sprach davon, wie rasant sich die sicherheitspolitische Lage verändert habe, erinnerte an die Friedenspolitik Willy Brandts und berichtete von Parteiaustritten. Das Tempo der Veränderung überfordere viele. „Waffenlieferungen in ein Krisengebiet zu schicken, wäre vor vier Jahren noch undenkbar gewesen.“ Und heute? Werden noch ganz andere Dinge diskutiert. Deutschland wird keine Atommacht, wenigstens das wies Waldau klar zurück. In Diskussion steht aber ein deutscher Raketen-Schutzschirm. Waldau sprach von einem System „ähnlich dem israelischen Abwehrschirm“. Dabei dürfte es sich um „Arrow 3“ handeln. Wie weit solche Überlegungen schon gediehen sind, ließ der Oberst offen: „Konkreter kann ich nicht werden.“