„Ein gewisses Entsetzen“
Der Schriftsteller und Journalist Heinrich Thies (69) aus der Samtgemeinde Ahlden ist Autor des Buches „Hilferuf aus dem Folterkeller“, das sich mit den sogenannten Hamburger Säurefassmorden beschäftigt. Das 2014 erschienene Werk diente als Vorlage für die sechsteilige True-Crime-Serie „German Crime Story: Gefesselt“ von Amazon-Primevideo, die am 13. Januar Premiere in Hamburg feierte und seitdem kontrovers diskutiert wird. Die spannend wie ein moderner Thriller inszenierte Verfilmung enthält überaus drastische Szenen.
Die Hauptfigur Raik Doormann ist dem realen „Säurefassmörder“ Lutz Reinstrom nachempfunden. Oliver Masucci spielt ihn als zotig-sexistischen Sprücheklopfer mit breitem Hamburger Dialekt – eine gesellige, dröhnende, schillernde Figur. „Der kultige, nette, sexy Frauenmörder von nebenan“, wie es in einer der Kritiken bissig heißt. Die Böhme-Zeitung sprach mit Autor Thies über menschliche Abgründe, den ungebrochenen True-Crime-Boom, die Gefahr der Abstumpfung und die Vorzüge von Texten gegenüber bewegten Bildern.
Herr Thies, Sie haben 2014 ein Buch über die von Lutz Rein- strom begangenen sogenannten Hamburger Säurefassmorde ver- öffentlicht. Was hat sie an dem Stoff und der Person gereizt?
Heinrich Thies: Die Idee dazu hatte mein Verleger Dietrich zu Klampen. Ich habe sehr schnell zugestimmt. Ich fand den Fall spannend und zugleich beklemmend, auch aufgrund des Verhaltens der Polizei. Die sah ja lange keinen Anlass für Ermittlungen, weil der Täter die von ihm entführten Frauen dazu gezwungen hatte, an ihre Angehörigen zu schreiben, dass es ihnen gut gehe: Sie seien freiwillig verschwunden, um irgendwo in der Fremde ein neues Leben zu beginnen. Wäre da nicht diese Polizistin gewesen, die sich damit nicht zufrieden geben wollte und nach Feierabend auf eigene Faust ermittelt hat – die Morde wären wohl niemals aufgeklärt worden. Dass das nur losgelöst von polizeilichen Hierarchien stattfinden konnte, hat mich sehr irritiert. Hinzu kam der Täter mit dieser schillernden Persönlichkeit. Ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft. Alle waren entsetzt, als sich herumsprach, dass der Pelzhändler diese schrecklichen Taten begangen hatte. Er war ja in seinem Umfeld beliebt, galt als sympathischer Kerl und Alleinunterhalter. Ein „Sabbelbüdel“, wie man in Hamburg sagt. Keiner hat ihm so etwas zugetraut. Das ist bei solchen Tätern ja oft so.
Wenn man sich ganz intensiv mit einem Menschen beschäftigt, entwickelt man normalerweise Verständnis, vielleicht sogar Sympathie. Wie ist das bei so grausamen Protagonisten wie dem Säurefassmörder oder dem Kindermörder Ronny Rieken, über dessen Fall Sie ebenfalls ein Buch geschrieben haben?
Das war in beiden Fällen anders. Bei den Säurefassmorden bin ich nicht über den Täter an den Fall herangetreten, sondern über die ermittelnde Polizistin Marianne Atzeroth-Freier. Die habe ich oft zu Hause besucht. Was schwierig war, weil sie schwer an Krebs erkrankt und schnell erschöpft war. Sie stand im engen Kontakt zu den Angehörigen der Ermordeten und zu dem Opfer, das überlebt hatte. Der Täter stand zunächst also nicht im Mittelpunkt. Er rückte erst später ins Bild.
Sie wollten ihn im Gefängnis besuchen, was nicht geklappt hat.
Wir hatten Briefkontakt, und nach einer Weile lud er mich in die JVA Fuhlsbüttel ein. Aber weil ihm mein Sternbild Krebs nicht geheuer war, hat er dann einen Rückzieher gemacht. Ich habe im Verlauf der Recherche auch mit seinem Astrologen gesprochen, den er bei allen Gelegenheiten gefragt hat, wie die Sterne für ihn standen. Das war schon sehr befremdlich.
Der Glaube des Frauenmörders an Horoskope wird auch in der Amazon-Serie thematisiert...
Genau. Abgesehen von der Filmästhetik, die ihre eigene Dramaturgie hat, bewegt sich die ganze Serie inhaltlich eng an meinem Buch.
„Immer auch eine Annäherung an das Unfassbare"
Die Verbrechen des Säurefassmörders sind unfassbar grausam. Hatten Sie nach Fertigstellung des Buches eine Erklärung dafür, wie ein Mensch zu solchen Taten fähig sein kann?
Ich habe mich von unterschiedlichen Seiten an den Menschen Lutz Reinstrom herangetastet. Dabei hat sich mir durchaus einiges erschlossen, was diesen Menschen zu dem gemacht haben könnte, was er am Ende war. Wichtig für seine Entwicklung war zum Beispiel die sehr dominante Mutter. Sie übte geradezu eine Befehlsgewalt über ihn aus. Wie ein General habe sie agiert, schreibt der psychiatrische
Gutachter. Die Mutter drängte den Sohn vor allem in den Beruf des Pelzhändlers. Jeden Tag nach Feierabend hatte er ihr in ihrer Wohnung oberhalb seines Ladens Bericht zu erstatten. Eine zentrale Rolle spielte außerdem die SM- Szene. Die kommt ja auch in der Serie vor. Reinstrom hat sich vor Gericht damit herauszureden versucht, dass alles ein einvernehmliches Sexspiel gewesen sei. In der SM-Szene kommt es ja tatsächlich vor, dass Menschen sich freiwillig der Gewalt eines anderen ausliefern. Ich habe in einem SM-Studio recherchiert und was die dort arbeitenden Frauen mir erzählten, war absolut bizarr. Manche Kunden zum Beispiel erwarten, dass man ihnen eine Pistole in den Nacken drückt, sobald sie zur Tür reinkommen. Andere wollen ausgepeitscht oder auf dem OP-Tisch gefoltert werden. Spiel und Ernst können da schon mal verschwimmen. Aber natürlich lässt sich mit diesen Aspekten noch nicht erklären, wie ein Mensch zum sadistischen Mörder wird. Dafür braucht es ein Bündel von Faktoren, und es schwingt stets das unergründliche Geheimnis der menschlichen Seele mit. Ich war viele Jahre als Gerichtsreporter tätig und habe bei den psychiatrischen Gutachtern immer wieder herausgehört, dass es eigentlich unmöglich ist, solche Täter bis ins Letzte zu verstehen. Für mich ist die Annäherung an solche Menschen immer
auch eine Annäherung an das Unfassbare.
Ihr Buch entstand 2014, die Amazon-Serie dazu gibt es seit
sechs Wochen. Wie kam es dazu?
Die Filmfirma Neue Bioskop aus München hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass sie mein Buch als Vorlage für eine sechsteilige Serie nutzen möchte. Da die Rechte beim Verlag liegen, war es dessen Aufgabe, mit der Neuen Bioskop einen Filmvertrag zu schließen. Ein Mitspracherecht des Buchautors bei der Verfilmung schließt dieser Vertrag nicht ein.
Sie hatten einen Beraterstatus.
Ja, aber das ist etwas anderes. Das Team der Drehbuchautoren hat mich zu Hause besucht, ich habe auch mit dem Regisseur gesprochen. Aber dabei hatte ich eben nur den Status eines Beraters wie andere auch.
Die Serie hat hohe Wellen geschlagen, es gab sehr unterschiedliche Reaktionen. Sie polarisiert. Hat Sie das überrascht?
Mich überrascht nicht, dass die Serie auch harsche Kritiken wie die von Spiegel Online hervorruft, in der steht, dass die Grenze des Erträglichen überschritten werde. Ich selbst habe die Serie zum ersten Mal beim Filmfest in Hamburg gesehen. Da hatte ich die Ehre, zusammen mit den Hauptdarstellern über den Roten Teppich ins Cinemaxx zu spazieren. Ich muss sagen: Meine erste Reaktion auf die Verfilmung war ein gewisses Entsetzen. Ich war nicht besonders begeistert. Das hängt weniger mit den grausamen Szenen zusammen, die es in der Serie gibt, als mit der komplizierten Verschachtelung verschiedener Zeitebenen. Das ständige Hin- und Herspringen zwischen den Zeitebenen macht es unvorbereiteten Zuschauern schwer, die Geschichte zu verstehen – vor allem die der Opfer und Angehörigen. Showrunner und Held der Serie ist ja der von Oliver Masucci gespielte Täter Raik Doormann. Das ist bereits in einigen Kritiken als Problem angemerkt worden, und ich teile die Bedenken. Natürlich gibt die Täterrolle viel her und bietet einem Schauspieler ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Der Mann lädt Nachbarn zum Grillen ein und scherzt mit ihnen auf der Terrasse, während in seinem privaten Atomschutzbunker die Frauen, die er gefesselt und gefoltert hat, um ihr Leben bangen. Dieses Nebeneinander widerstrebender Lebensaktivitäten ist ein Wahnsinn, den die Serie natürlich einfangen musste. Mit Masucci, der ein klasse Schauspieler ist, gelingt ihr das sehr gut. Aber ich hätte mir gewünscht, dass auch die Opfer und deren Angehörige etwas mehr an Profil gewinnen und den Zuschauern näher kommen. Damit deutlicher wird, was für ein unfassbares Leid der Täter ihnen angetan hat. Angehörigen, die über Monate und Jahre im Ungewissen über das grauenhafte Schicksal ihrer Liebsten blieben. Das kommt mir alles ein bisschen zu kurz. Gut gelungen finde ich dagegen die Figur der Polizistin. Angelina Häntsch agiert sehr reduziert und spröde. Das entspricht genau dem Typus von Marianne Atzeroth-Freier, die sich nie in den Mittelpunkt gestellt hat.
Sie ist die eigentliche Heldin der Serie, die positive Figur.
Das schon. Aber die Figur wirkt gegenüber dem von Masucci gespielten schillernden Täter eben doch ein bisschen blass.
„Ich habe die Sorge, dass das abstumpft"
Das Genre lebt vom Fokus auf menschliche Abgründe und die dunkle Faszination, die von Serienmördern. Wie stehen Sie dazu? Sehen Sie sich als True-Crime-Autor?
Überhaupt nicht. Seit dem „Hilferuf aus dem Folterkeller“ von 2014 habe ich kein Buch dieser Art mehr geschrieben. Stattdessen habe ich zum Beispiel über Marlene Dietrich und ihre Schwester, die in Bergen-Belsen ein Truppenkino betrieben hat, geschrieben; über den Schriftsteller Erich Maria Remarque und seine Schwester Elfriede oder zuletzt die Familiengeschichte Alma und der Gesang der Wolken. Ganz andere Themen also. Ich bin auch überhaupt kein Filmegucker, lese viel lieber Bücher. In welchem Maße gerade junge Menschen Serien konsumieren, finde ich beängstigend. Mir hat eine 21-Jährige aus meinem privaten Umfeld erzählt, dass Sie sich in einer Nacht alle sechs „Gefesselt“-Folgen hintereinander angesehen habe. Sie fand das ganz toll und spannend. Das ist keine Ausnahme. Ich habe die Sorge, dass das abstumpft und die eigene Vorstellungskraft beeinträchtigt. Bei einem Buch muss man sich den Film im Kopf ja selbst herstellen, am Bildschirm konsumiert man ihn nur passiv. Ich würde immer das Buch empfehlen statt der Serie. Aber ich weiß auch, dass viele Menschen gar keine Bücher mehr lesen. Für die sind solche Serien spannender. Wahrscheinlich gehöre ich einfach nicht zu der Generation, die auf diese Art Filmästhetik abfährt. Mein Sohn hat die Verschachtelung unterschiedlicher Zeitebenen in der Serie verteidigt. Das sei heute Standard. Ich habe Probleme damit. Ich liebe mehr die Ingmar-Bergmann-Dramaturgie mit langen Szenen, die Raum für Fantasie lassen.
True-Crime-Formate boomen nicht nur bei den Streamingdiensten, es gibt auch sehr erfolgreiche Printmagazine und Podcasts. Haben Sie eine Erklärung für das große Interesse an wahren Verbrechen?
Ich finde, es gibt auf allen Ebenen eine Inflation an Krimi-Produktionen. An Sonntagen läuft nach dem Tatort oft gleich der nächste Krimi. Das ist viel zu viel. Vielleicht hat das damit zu tun, dass vielen Menschen ihr eigenes Leben zu langweilig und ereignislos geworden ist. Oder dass wir schon so lange keinen Krieg mehr erlebt haben. Dann möchte man sich vielleicht in anderer Form mit Gewalt beschäftigen, weil auch sie eben ein Teil von uns Menschen ist. Ich will das nicht nur schlechtmachen, natürlich ist es faszinierend, sich mit menschlichen Abgründen zu beschäftigen. Ich habe das immer gerne getan. Aber momentan nimmt das überhand. Dahinter verblassen die kleinen Geschichten. Alltägliche Emotionen werden fast ein bisschen entwertet. Immer muss es gleich ein Mord sein, damit wir erschüttert sind. Dabei werden wir im Leben doch viel eher von anderen Problemen, etwa Konflikten mit unseren Freunden oder der Familie tief berührt.
Bislang war es in Deutschland so, dass sich Menschen in schweren Zeiten eher nach seichter Unterhaltung sehnten.
Genau. Während des Weltkriegs liefen Liebesfilme mit Zarah Leander, und man träumte vom privaten Glück. Vielleicht kommt das wieder, wenn der Krieg noch näher an uns heranrückt. Wobei ich natürlich hoffe, dass es nicht so kommen wird und der Krieg in der Ukraine bald endet.