Leben mit AD(H)S: Bunt wie Konfetti
Kreativ, hilfsbereit, feinfühlig, ehrlich und begeisterungsfähig – das sind nur einige der möglichen Stärken von Menschen mit ADHS oder ADS. Die Abkürzung ADHS steht für das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Da die Hyperaktivität nicht bei allen Betroffenen gleichermaßen ausgeprägt ist, spricht man in diesen Fällen auch von ADS. AD(H)S tritt häufig auf. Wie häufig genau schwankt mit den zugrunde gelegten Diagnosekriterien. Unter Einbeziehung der weniger strengen Kriterien wird weltweit von einer durchschnittlichen Häufigkeitsrate bei Kindern und Jugendlichen von rund 5 Prozent ausgegangen. Werden die strengeren Diagnosekriterien angewendet, liegt die Rate bei ein bis drei Prozent.
Für Deutschland liegt eine repräsentative Erhebung auf der Grundlage der Einschätzung von Eltern vor. Demnach beschreiben rund 6 Prozent der Eltern von Kindern im Alter von sieben bis zehn Jahren bei diesen so viele Symptome, dass die Diagnose von ADHS in Frage kommen könnte. Bei den zehn bis 13-Jährigen liegt die Rate bei etwa 4,5 Prozent und bei den 14- bis 17-Jährigen knapp unter vier Prozent.
Die Stärken von Menschen mit AD(H)S hat Julia de Bruycker ganz bewusst auf den Flyer der Elterngruppe „Konfetti-Kinder“ gesetzt, denn oft liege der Blick vor allem auf dem, was diese nicht gut könnten. Auf diese Stärken soll auch der Name der Gruppe hinweisen. De Bruycker hat in Schneverdingen eine Elterngruppe für Eltern von Kindern mit AD(H)S und für Pädagogen gegründet. Sie ist Lehrerin und Mutter von fünf Söhnen. Bei zwei von ihnen wurde ADHS diagnostiziert. Sie weiß wie es Eltern direkt nach der Diagnose geht: „Wenn man die Diagnose bekommt, steht man erst einmal ratlos vor den Fragen, die man beantworten muss: wie, ob Medikamente ja oder nein.“ De Bruycker hat zu dem Zeitpunkt als Lehrerin schon jahrelange Erfahrung im Umgang mit Kindern mit AD(H)S, trotzdem merkt sie, dass das was sie bereits weiß, nicht reicht. Sie besucht Fortbildungen und Elterncoachings. Die Familie bekommt auch schnell Hilfe durch eine Psychologin, aber was de Bruycker bis heute fehlt, sind Anlaufstellen vor Ort darüber hinaus, mit der Möglichkeit zum Austausch mit anderen Eltern. Mit Unterstützung von „Hilfen aus einer Hand“ hat sie deshalb jetzt selbst den Elternstammtisch gegründet.
Das erste Treffen findet heute ab 19 Uhr im Freiraumbüro in Schneverdingen statt, die weiteren Treffen sollen monatlich stattfinden. Die Gruppe ist offen für jeden: Für betroffene Eltern, deren Kinder bereits eine Diagnose bekommen haben, genauso wie Eltern, die erst vermuten, dass ihr Kind betroffen sein könnte. Aber auch Pädagoginnen aus Schule und Kita können den Stammtisch besuchen. De Bruycker plant zudem, dass zu den monatlichen Treffen je ein Experte wie Ergotherapeuten oder Kinderpsychologen kommt, um Fragen der Eltern zu beantworten und über Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären. Kommuniziert werden die Treffen über eine Whats-App-Community (siehe Infobox). „Die Gruppe ersetzt die Behandlung durch Therapie und Ergotherapie natürlich nicht, aber Eltern sollen sich hier Tipps holen können“, sagt de Bruycker.
Dinge zu Ende zu bringen, fällt schwer
Die Besonderheiten von Kindern mit AD(H)S kann Familien vor Herausforderungen stellen. De Bruycker beschreibt es so: „Wenn man eine Familie plant, dann hat man eine bestimmte Vorstellung im Kopf wie Familienessen, wie Familienurlaube aussehen werden. Wenn die Kinder da sind, sieht die Realität sowieso immer anders aus, wenn man dann die Diagnose ADHS bekommt, wird noch einmal alles auf den Kopf gestellt.“ Zum Beispiel sei eine ruhige Mahlzeit mit der ganzen Familie schwer möglich. Kindern mit AD(H)S kann es auch schwerfallen, Alltagstätigkeiten zu Ende zu bringen, wie eine Schranktür wieder zu schließen, nachdem man etwas herausgenommen hat. Sie können dazu neigen oft Dinge zu verlieren, lassen sich leicht ablenken oder scheinen nicht zuzuhören.
Grund dafür sind neurochemische und neurobiologische Besonderheiten bei Menschen mit AD(H)S. Bei ihnen ist das Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn verändert. Die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sorgen normalerweise dafür, dass wir motiviert und wach sind und unsere Aufmerksamkeit gezielt fokussieren können. In einem ADHS-Gehirn stehen Dopamin und Noradrenalin aber dort, wo sie benötigt werden, nicht in ausreichender Menge zur Verfügung. Deshalb werden Reize anders verarbeitet und Menschen mit ADHS nehmen ihre Umgebung anders wahr.
Die Gruppe soll eine Anlaufstelle für Eltern sein, bei der sie auf Menschen treffen, die die Herausforderung verstehen, die mit einer AD(H)S-Diagnose einhergehen: „Manchmal kennt man vielleicht eine Situation schon aus dem eigenen Familienalltag und kann mit anderen teilen, wie man damit umgegangen ist“, sagt de Bruycker.