„Sowas haben wir in dieser Dimension noch nicht erlebt“

Ministerpräsident Stephan Weil (Mitte), SPD-Bundespolitiker Lars Klingbeil (rechts) und Landtagsabgeordneter Sebastian Zinke (Zweiter von links) mit Serengeti-Park-Chef Fabrizio Sepe (Zweiter von rechts) auf dem mit Sandsäcken versehenen Zubringer des Tierparks. Foto: dh

Das Wasser steht den Menschen in den Gebieten an der Aller buchstäblich bis zum Hals. Nachdem sich die Hochwasserlage zur Wochenmitte im Heidekreis vor allem in Hodenhagen immer weiter zugespitzt hat, machen sich Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, Bundestagsabgeordneter Lars Klingbeil (beide SPD), Heidekreis-Landrat Jens Grote und der SPD-Landtagsabgeordnete Sebatian Zinke am Donnerstagvormittag selbst ein Bild über den Zustand an Aller und Meiße.

Auf 4,36 Meter ist das Wasser in der Nacht zum gestrigen Donnerstag angestiegen. Je nach geologischer Lage liegt der verbleibende Puffer zum Worst-Case-Szenario nach Schätzungen der Feuerwehr bei etwa 60 Zentimetern. Dass man jemals über derart wenig Spielraum angesichts bisher ungekannter Wassermengen sprechen muss, ist für alle Beteiligten ein Novum. Mehrere Straßen wie die zum örtlichen Klärwerk sind komplett unterspült und gesperrt.

Der Grundtenor der Einsatzkräfte und der SPD-Spitzenpolitiker dabei lautet: „So etwas haben wir in dieser Dimension noch nicht erlebt.“ Deutlich mehr als 100 000 Menschen sind laut Weil seit dem 23. Dezember landesweit im Einsatz, teilweise über die Belastungsgrenze hinaus. „Vielen Dank an die Einsatzkräfte, ohne die wir hier inzwischen ‚Land unter‘ hätten. Das Unangenehme ist, dass nicht absehbar ist, wann Sie aus den Gummistiefeln wieder herauskommen“, so der Landesvater.

Indes hat der Heidekreis vorsorglich ein „außergewöhnliches Ereignis festgestellt“, wie es offiziell heißt, den Katastrophenschutz mobilisiert, um voll einsatzfähig akut über ihn verfügen zu können. Grote und Weil sind sich einig: Es sei viel besser, der Situation einen Schritt voraus zu sein, um dann im Ernstfall sofort handeln zu können. Dafür stünden die Gemeinden für eine Aufschluss gebende Gesamtübersicht in regem Wissenstransfer.

Im Fokus stehen diesbezüglich die Samtgemeinden Schwarmstedt, Ahlden und Rethem. Sie gelten als potenziell bedroht. An der L 191 bei Ahlden steht das Wasser bereits bis zum Straßenrand. Gemäß der mitunter mehr als der sechsfachen Menge an Regen im Oktober und November sind die Böden auch hier nicht mehr aufnahmefähig. Je länger dieser Zustand anhält, desto kritischer wird die Gemengelage. Bis sich die Situation entspannt, kann es noch Wochen dauern. Zudem stellt sich die Frage, wie lange Dämme und Deiche dem Druck noch standhalten. Zwar sei es noch gelungen, extreme Schäden zu vermeiden, doch Weil mahnt zur Wachsamkeit: „Bisher sind wir mit einem blauen Auge davongekommen, aber wir sind noch nicht durch.“

Hochwassersituation im Serengeti-Park weiterhin prekär

Der Pegel steigt, das Wasser steht. Feuerwehren und Technisches Hilfswerk sind seit Tagen im Dauereinsatz. In vielen Talsperren im Harz sind die Kapazitäten erreicht, sie kratzen an ihrer maximalen Auslastung. In der Gemeinde Lilienthal bei Bremen kam es nach einem Dammbruch zu Evakuierungen.

Die Solidarität in Hodenhagen ist derweil trotz der Strapazen ungebrochen. Über 120 Freiwillige helfen Feuerwehr und DLRG am Hodenhagener Bahnhof beim Befüllen der zurzeit wichtigsten Waffe gegen die Wassermassen: Sandsäcke. Eine derartige Hilfsbereitschaft lässt die 800 in Hodenhagen tätigen Einsatzkräfte geradezu fassungslos zurück. Im Minutentakt werden die fertig gefüllten Säcke auf Lastwagen an die Flut-Brandherde gefahren. Viele, die körperlich nicht helfen können, bringen Verpflegung oder Material an den Bahnhofsplatz.

Diese unglaubliche Solidarität würde ich mir auch über akute Bedrohungen und Krisen hinaus wünschen
— Stephan Weil, Ministerpräsident

Auch der aus Hannover nach Hodenhagen gereiste Ministerpräsident Stephan Weil zeigt sich von der hilfsbereiten Anwohnerschaft berührt, während er allen Beteiligten seinen Dank für ihre Aufopferung ausspricht. „Diese unglaubliche Solidarität würde ich mir auch über akute Bedrohungen und Krisen hinaus wünschen.“ Hilfe, ohne die der 20 000-fache Einsatz von Sandsäcken, die Flächen wie den Serengeti-Park überhaupt haltbar machen, in dem Tempo nicht möglich wäre. Der Tierpark hat wegen seiner akuten Notsituation überregionale Aufmerksamkeit erlangt. Weite Teile des Geländes sind überflutet, vereinzelt stehen Stallungen unter Wasser. Durch einen kurzzeitigen Stromausfall am Mittwoch quittierten die Heizungen den Dienst, vor allem eine Gefahr für die temperaturempfindlichen exotischen Tiere. Lemuren und Präriehunde verließen deshalb einstweilen ihre Gehege und wurden evakuiert. Über die geflutete Zufahrtsstraße mussten Notstromaggregate und Hochleistungspumpen mit LKW angeliefert werden, um Tiere zu versorgen und das ansteigende Wasser aus dem Park in die Meiße zu befördern.

Inzwischen ist die Lage zwar unter Kontrolle gebracht, aber weiterhin fragil. Für Tierpfleger des Parks konnte ein weiterer Weg zum Parkinneren gesichert werden. Drohnenaufnahmen um den Park herum zeigen eine große Seenlandschaft. Dementsprechend laufen die Pumpen des THW am Limit.

Die mit Deichen präparierte, primäre Zufahrtsstraße zum Park ist selbst für Unimogs und Lastenfahrzeuge nur schwer passierbar. Um den Kanal weiterhin gegen die 110 000 Kubikmeter Wasser offenzuhalten, steht der Wall aus Sandsäcken unter ständiger Beobachtung. Die Gefahr eines Deichbruchs durch die permanente Befeuchtung nötigt den Einsatzkräften konstantes Nachbessern ab. Die Hoffnung liegt nun in erster Linie auf einem niederschlagsfreien Jahreswechsel und einem unnachgiebigen Damm gegen die Flut.

Daniel Herzig