„Der Unmut über die Regierung ist groß“
Herr Klingbeil, laut dem jüngsten ZDF-Politbarometer sind das Ansehen der Bundesregierung und ihres Kanzlers so schlecht wie noch nie in dieser Legislaturperiode. 68 Prozent der Befragten erklärten, die Bundesregierung mache ihre Arbeit eher schlecht. Bei der Sonntagsfrage kommen die Sozialdemokraten ebenso wie die Grünen nur noch auf 14 Prozent, während AfD und CDU/CSU bei 22 beziehungsweise 32 Prozent liegen. Wie wichtig sind für Sie solche Stimmungsbilder?
Lars Klingbeil: Ich erlebe bei Terminen und in vielen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern, dass der Unmut über die Regierung derzeit groß ist. Das beschäftigt mich natürlich. Gleichzeitig beschäftigen mich auch die vielen externen Krisen, in denen wir uns momentan befinden. Denken Sie etwa an die Situation in der Ukraine, den Krieg in Nahost oder auch die aktuelle Lage im Suezkanal und im Roten Meer. Für all das sind wir nicht verantwortlich, aber es hat Auswirkungen auf uns. Unsere Gesellschaft ist müde von den vielen Krisen. Im kommenden Jahr muss es deshalb viel stärker um diejenigen gehen, die inmitten dieser Krisen immer weniger hatten. Diejenigen, die jeden Tag arbeiten gehen, mit ihrem normalen Gehalt ihre Familie durchbringen und die Inflation der letzten Jahre spüren. Für diese Gruppe werden wir für Entlastung sorgen.
Auf dem SPD-Bundesparteitag Anfang des Monats haben Sie gesagt, die große Mehrheit in unserem Land seien die Leisen, die Fleißigen, die Vernünftigen, die Solidarischen, die Warmherzigen, die Engagierten, die Zugewandten, die guten Nachbarn. Was müssen die Koalitionspartner, was muss speziell die SPD im neuen Jahr anders und besser machen, um verloren gegangenes Vertrauen gerade dieser „leisen Mehrheit“ der Wähler zurückzugewinnen?
Im ersten Jahr unserer Regierung haben wir viel Positives erreicht. So mussten wir nach Beginn des Ukraine-Kriegs schnell handeln, um Alternativen zu den russischen Gaslieferungen aufzubauen. Zugleich wurden die Bürger mit mehreren Entlastungspaketen vor allzu großen sozialen Härten bewahrt. Dazu die Gas- und Strompreisbremse. Doch in diesem Jahr haben wir dann politisch einiges verstolpert. Es gab zu viel Streit innerhalb der Koalition. Im Jahr 2024 müssen wir uns auf drei große Bereiche fokussieren: erstens, wirtschaftlich wieder stärker werden. Viele Unternehmer machen sich derzeit große Sorgen, dass die ökonomische Schwächephase anhalten könnte. Gleiches gilt für Beschäftigte, die um die längerfristige Sicherheit ihrer Arbeitsplätze fürchten.
Und die anderen beiden großen Bereiche?
Zweitens müssen wir die arbeitende Mitte im Alltag entlasten. Das geht über bessere Gesundheitsversorgung, gute Kinderbetreuung bis hin zur Verbesserung bei der Pendlerpauschale. Und drittens müssen wir das große Thema Migration und Integration besser in den Griff bekommen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, die Politik kümmere sich um dieses und jenes Nischenthema, aber verliere dabei die zentralen Bereiche Wirtschaftswachstum, sichere Arbeitsplätze und Migration aus dem Blick. Wenn wir bei diesen drei großen Themen Ideen und Lösungen präsentieren, werden wir auch wieder Vertrauen zurückgewinnen.
Stichwort Pendlerpauschale. Sehen Sie hier Handlungsbedarf?
Als Abgeordneter aus dem ländlichen Raum bin ich überzeugt, dass die Pendlerpauschale Sinn macht, um die arbeitende Mitte der Bevölkerung zu entlasten. Natürlich wäre mir am liebsten, wir hätten einen so guten öffentlichen Nahverkehr, dass man das Auto nicht zwingend braucht. Aber, das entspricht nicht der Realität. Und wenn die Regierung nun wegen der notwendigen Sparmaßnahmen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorschlägt, den CO₂-Preis zu erhöhen, finde ich, wir können Schritte gehen, um die Pendler zu entlasten. Darüber werden wir als Sozialdemokraten Anfang des Jahres mit unseren Koalitionspartnern reden.
Viele Bürger beklagen, dass sich der Bundeskanzler in kritischen Situationen kaum oder erst sehr spät öffentlich äußert. Dies sorge für zusätzliche Unsicherheiten. Können Sie diese Kritik am Kommunikationsstil von Olaf Scholz nachvollziehen?
Ich kenne den Kanzler schon lange und arbeite sehr vertrauensvoll mit ihm zusammen. Olaf Scholz geht dann an die Öffentlichkeit, wenn die Lösung fertig ist und er etwas zu sagen hat. Er gehört nicht zu den Politikern, die sich jeden Tag um Schlagzeilen bemühen oder auch ihre jeweiligen Gefühlslagen schildern. Der Kanzler ist jemand, der koordiniert, der sich abspricht, gerade auch im internationalen Bereich. Dieser Regierungsstil ist gut geeignet, um ein Land durch die aktuellen Krisen zu führen. Natürlich muss Politik auch erklärt und verständlich gemacht werden. Olaf Scholz hat dies nach dem Haushalts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in seiner Regierungserklärung im Bundestag und auch im Fernsehen getan.
Bei Konflikten innerhalb der Koalition geht es häufig um sehr gegensätzliche Positionen von Grünen und FDP. Die SPD wird dann zumeist als eine Art Vermittlerin öffentlich wahrgenommen. Reicht diese moderierende Rolle – nicht zuletzt des Kanzlers –, um auf Dauer bei Wählern zu punkten?
Zunächst einmal: Ich wünsche mir innerhalb der Koalition weniger Streit. Natürlich muss es in einem Regierungsbündnis, wie wir es haben, auch inhaltlichen Wettbewerb um Ideen und Lösungen geben. Aber im vergangenen Jahr hat es zu viel Streit gegeben. Hier müssen wir künftig wieder ein vernünftiges Maß finden. Die SPD ist in der Ampel keinesfalls Moderator, sondern Takt- und Impulsgeber. Das ist mir als Parteivorsitzender wichtig. Ein Beispiel hierfür ist die Pendlerpauschale, über die wir gerade gesprochen haben, oder auch die Einführung einer Gas- und Strompreisbremse im vergangenen Jahr. Und für mich sind es auch die Themen und Perspektiven des ländlichen Raumes, die ich in den Beratungen immer wieder einbringe.
Wie nehmen Sie persönlich momentan das Erscheinungsbild der Koalition wahr?
Zweigeteilt. Wir haben beispielsweise sehr viel im Bereich erneuerbare Energien bewirkt, wir haben uns auch außenpolitisch mit dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr neu aufgestellt. Der Sozialstaat ist modernisiert worden – Stichworte Kindergeld und Kinderzuschlag. Oder denken Sie an das Bürgergeld und auch die Erhöhung des Mindestlohns. Doch leider werden diese Erfolge durch die vielen Streitigkeiten häufig überschattet.
Welche Folgen werden die jüngsten Haushaltsbeschlüsse der Koalition für den ländlichen Raum haben? Viele Landwirte etwa befürchten massive Belastungen und Wettbewerbsverzerrungen durch die geplanten Streichungen der Agrardiesel-Subvention und der Kfz-Steuerbefreiung für die Landwirtschaft. Können Sie die Enttäuschung und die Wut der protestierenden Bauern verstehen?
Ja, die kann ich schon verstehen. Und ich bin mit den Landwirten und ihren Vertretern auch im Gespräch. Allerdings musste die Regierung nach der Haushalt-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts neue Lösungen finden. Es gilt zu sparen. Jedes Ministerium muss hier seinen Beitrag leisten. Wenn der für den Agrarsektor zuständige Minister Özdemir fünf Minuten nach der gemeinsamen Koalitionsvereinbarung sagt, er sei mit dem Ergebnis nicht einverstanden, weckt er bei den betroffenen Landwirten natürlich Erwartungen. Er kann darlegen, wo er an anderer Stelle in seinem Ressort sparen könnte. Ich werde ihn nicht aufhalten, bessere Lösungen zu präsentieren.
Ist bei den geplanten Kürzungen im Agrarsektor schon das letzte Wort gesprochen?
Die Regierung hat einen gemeinsamen Kompromiss vorgelegt, jetzt ist das Parlament am Zuge. Wir als SPD werden dabei noch einmal genau auf die Belange der Landwirte schauen. Hierbei bin ich mit den hiesigen Landwirten im Austausch. Am besten findet man Lösungen im Dialog.
Am 9. Juni des kommenden Jahres finden Europawahlen statt, und am 1. September wird in Sachsen und Thüringen jeweils ein neuer Landtag gewählt. Am 22. September sind die Bürger in Brandenburg an die Urnen gerufen. Und in Berlin muss teilweise die Bundestagswahl nachgeholt werden. Wie sehen Sie die Chancen der Sozialdemokraten, gemeinsam mit anderen demokratischen Parteien den Zulauf für die AfD speziell in Ostdeutschland zu stoppen?
Das sind große Herausforderungen. Wir müssen hart dafür arbeiten, dass die AfD kleiner und die demokratischen Parteien größer werden. Das geht am besten, wenn wir die uns gestellten Aufgaben lösen und die Alltagssorgen der Menschen ernst nehmen. Das reicht von bezahlbarer Energie bis hin zu guter Kita-Betreuung und guter Pflege. Wenn dies positiv geregelt wird, gewinnen wir auch Vertrauen zurück.
Wie gefährlich ist die AfD für unsere Demokratie?
Wer in der AfD Verantwortung übernimmt und sich um ein Landtags- oder Bundestagsmandat bewirbt, ist in meinen Augen ein überzeugter Rechtsextremist. Das ergibt sich schon aus den Programminhalten dieser Partei. Wenn mir Bürger am Infostand aber sagen, sie würden jetzt AfD wählen, weil sie sauer auf die demokratischen Parteien seien, sind sie nicht gleich rechts. Diese enttäuschten Bürger will ich politisch zurückgewinnen. Dafür müssen wir hart arbeiten. Die AfD ist eine brandgefährliche Partei, weil sie hetzt, polarisiert und dieses Land spalten will.
Schließen Sie ein Verbotsverfahren gegen die Partei in absehbarer Zeit aus?
Die Debatte darüber nimmt nach meinem Eindruck zu. Aber in Deutschland gibt es zu Recht hohe Hürden für ein Verbotsverfahren. An dieser Stelle habe ich tiefes Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden, die die Entwicklung beobachten, bewerten und – wenn sie die Grenze für überschritten halten – ein Verbotsverfahren vorschlagen. Aber als Politiker ist meine Aufgabe der politische Kampf gegen die AfD. Da geht es um Fragen wie: Was bedeutet die AfD für Kinder mit Behinderung, was bedeutet die AfD für sichere Arbeitsplätze, was mit Blick auf die Europäische Union, aus der die AfD austreten möchte und so die Jobs von Millionen Menschen gefährden würde. Der politische Kampf gegen die AfD ist eine der wichtigsten Aufgaben für die deutsche Sozialdemokratie.
Anderes Thema: äußere Sicherheit. Momentan werden viele Rüstungsprojekte begonnen. Wie sicher ist hier die langfristige Finanzierung – Stichwort Folgekosten. Reichen die geplanten Mittel im regulären Verteidigungsetat oder brauchen wir womöglich in drei oder vier Jahren ein neues Sondervermögen II in Höhe von vielleicht wieder 100 Milliarden Euro?
Zunächst einmal: Es ist gut, dass wir die Kehrtwende eingeleitet haben durch das 100 Milliarden-Sondervermögen. Zudem haben wir als Bundestag klar beschlossen, dass wir das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erfüllen wollen. Angesichts der angespannten Haushaltslage wird dies keine leichte Aufgabe sein. Doch es sollte für jede demokratische Partei außer Frage stehen, dass wir bei unserer Verteidigungsfähigkeit viel nachzuholen haben.
Ist die Bundeswehr für junge Leute attraktiv genug, um die Truppe bis 2031 auf die dann vorgesehenen 203 000 Soldaten und Soldaten vergrößern zu können?
Die Bundeswehr ist dann attraktiv, wenn ihre Soldatinnen und Soldaten zufrieden sind und positiv über ihren Job sprechen. Dazu braucht es Wertschätzung und Material, mit dem sie üben können: Fahrzeuge, die fahren und Hubschrauber, die fliegen. Hier gab es bislang große Defizite. Durch den Kriegsausbruch in der Ukraine hat sich das öffentliche Bild auf die Truppe gewandelt. Man interessiert sich in der Gesellschaft wieder für diejenigen, die bereit sind, unser Land zu verteidigen.
Verteidigungsminister Boris Pistorius lässt momentan Modelle einer Dienstpflicht prüfen – Ergebnis noch offen. In Schweden etwa werden alle jungen Männer und Frauen gemustert, und nur ein ausgewählter Teil von ihnen leistet am Ende den Grundwehrdienst. Können Sie sich so etwas grundsätzlich auch für Deutschland vorstellen?
Boris Pistorius muss dafür sorgen, dass die Bundeswehr genügend Personal bekommt. Ich finde es daher richtig, dass er verschiedene Wege prüft und dabei auch über die Grenzen schaut. Allerdings bin ich skeptisch, ob sich ein Modell wie in Schweden auf uns übertragen lässt. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht inklusive Musterungen würde in Deutschland zu einem großen bürokratischen Aufbau führen. Ich setze daher eher auf Freiwilligkeit. Dazu müssen wir den Dienst in der Bundeswehr entsprechend attraktiv machen. Allerdings fände ich es gut, wenn jeder junge Mensch einmal in seinem Leben mit der Frage konfrontiert wird: Kannst du dir vorstellen, einen Dienst für dieses Land zu leisten, sei es in der Bundeswehr oder auch durch ein freiwilliges soziales, ökologisches oder kulturelles Jahr. Solche Dienste sind für die Gesellschaft wertvoll und können für junge Menschen durchaus bereichernd sein. In den Schulen sollte darüber gesprochen werden.
Auf welche Höhe an Verteidigungsausgaben muss sich Deutschland mittel- und langfristig einstellen, falls Donald Trump 2024 die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt?
Ich hoffe, dass dieser Fall nicht eintritt. Aber wir müssen durchaus mit dem Szenario rechnen, dass Trump gewinnt und uns auf eine solche Situation vorbereiten. Dann müsste Europa – insbesondere Deutschland, Frankreich und Polen – eine größere Verantwortung übernehmen. Dies gilt für den militärischen Teil von Sicherheitspolitik, aber auch weit darüber hinaus.
Unabhängig vom Ausgang der nächsten US-Wahlen: Müssen wir uns künftig als Deutsche und Europäer wesentlich mehr auf unsere eigenen militärischen Kräfte verlassen?
Ja, davon bin ich überzeugt. Für die nächste EU-Kommission, die nach den kommenden Europawahlen gebildet wird, dürfte neben Energie- und Wirtschaftspolitik die Sicherheitsunion der dritte große Schwerpunkt werden. Wir brauchen eine eigenständige europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Diese wäre keinesfalls gegen unsere transatlantischen Freunde gerichtet. Die Amerikaner erwarten sogar, dass wir mehr für unsere Sicherheit tun. Die USA werden sich perspektivisch stärker in den indo-pazifischen Raum orientieren. Daher müssen wir die europäische Säule in der Nato stärken. In diesen Bereich wird in den kommenden Jahren viel Geld hineinfließen müssen.
Sollten und könnten wir die Ukraine im Kampf gegen die russischen Truppen im kommenden Jahr noch stärker als bisher geplant finanziell und militärisch unterstützen? Und falls ja, in welcher Form?
Wir sind heute bereits der zweitgrößte Unterstützer und haben das entsprechende Finanzvolumen kontinuierlich ausgeweitet. Auch ist Olaf Scholz eine treibende Kraft in Sachen EU-Beitritt der Ukraine. Er hat dieses Thema beim jüngsten EU-Gipfel maßgeblich mit vorangebracht. Wir dürfen in 2024 mit unserer Unterstützung nicht nachlassen. Das Jahr wird sehr entscheidend für den Kriegsverlauf und die Ukraine.
Sehen Sie irgendwelche Chancen, dass der Kreml auf absehbare Zeit politisch-diplomatisch einlenken könnte?
Es ist richtig, dass Olaf Scholz immer wieder mit Putin telefoniert und unsere Position verdeutlicht. Und auch bei meinen Gesprächen im Sommer mit der chinesischen Staatsführung war der Krieg in der Ukraine ein großes Thema. So etwas kann helfen. Es ist entscheidend, dass der Druck von allen Seiten auf Russland hochgehalten wird. Am Ende wird der Konflikt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern am Verhandlungstisch gelöst werden müssen. Und dafür müssen wir die Ukraine in eine starke Position verhelfen.
Sind in einem solchen Zusammenhang noch hilfreiche Dienste des früheren Kanzlers und erklärten Putin-Freundes Gerhard Schröder denkbar oder wünschenswert?
Gerhard Schröder hat sich am Anfang des Krieges für die russische Seite entschieden. Das habe ich immer wieder kritisiert. Die führenden Sozialdemokraten in Partei, Fraktion und Regierung stehen solidarisch zur Ukraine. Diese Akteure sprechen für unser Land.
Was würde es für Deutschland bedeuten, wenn sich Putin in der Ukraine mehr oder minder erfolgreich durchsetzt?
2014 hat Russland die Krim besetzt und annektiert. Damals haben wir uns dem Trugschluss hingegeben, dass Putin jetzt keine weiteren Ambitionen mehr habe. Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. Wir hätten schon damals unsere östlichen Partner stärker unterstützen und mehr in unsere Sicherheit investieren müssen. Vertreter aus dem Baltikum sagen mir immer wieder: Wenn Putin jetzt nicht gestoppt wird, sind wir die nächsten. Was gerade an der Grenze zu Finnland passiert, wie dort die offenen Drohungen zunehmen, zeigt doch, dass Putin nicht einfach aufhören wird. Er hat Großmachtfantasien, möchte die Landkarte neu zeichnen und zurück zum großen, starken Russland.
Wie beurteilen Sie den nicht-militärischen Teil unserer äußeren Sicherheit, konkret: Brauchen wir mehr Mittel etwa für das Technische Hilfswerk oder das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe?
Zu einem umfassenden Begriff von Sicherheitspolitik gehört all dies für mich dazu. Gerade die Dienste des THW, bei denen es auch um Cyber-Sicherheit geht, werden immer wichtiger. Es fehlt jedoch auch hier an finanziellen Mitteln, weil wir viel zu lange zu bequem waren und zu wenig investiert haben. Dies muss jetzt Schritt für Schritt geändert werden. Allerdings weiß ich gerade nach den jüngsten Haushaltsberatungen, wie schwierig eine solche Umkehr ist.
Sollte das ehrenamtliche Engagement in diesen Bereichen des Zivilschutzes stärker als bisher gefördert werden, auch um besser auf Naturkatastrophen – Stichwort Klimawandel – vorbereitet zu sein?
In jedem Falle bin ich dafür, ehrenamtliches Engagement – etwa bei den Feuerwehren – zu stärken. Wie bei der Bundeswehr geht es auch hier um die Attraktivität des Dienstes. Beispielsweise haben wir die Übungsleiterpauschalen ausgeweitet. Manche Landkreise bieten zudem Ehrenamt-Tickets an. Unabhängig davon bin ich der Überzeugung, dass man von einem Ehrenamt auch selbst menschlich profitiert.
Generell gefragt: Müssen wir unsere Infrastruktur – nicht zuletzt die öffentlich relevante IT – aus Sicherheitsgründen deutlich robuster und widerstandsfähiger aufstellen?
Ja. Denken Sie nur daran, dass vor ein paar Jahren durch das Zerschneiden von zwei Kabeln der Bahnverkehr in weiten Teilen des Landes praktisch lahmgelegt werden konnte. Eine moderne digitale Gesellschaft ist sehr verletzlich. Deshalb sind Investitionen in die IT-Sicherheit äußerst wichtig. Hier wird bereits einiges getan, aber wir müssen diesen Weg weitergehen. Auf unserem Parteitag haben wir einen Plan vorgelegt, wie die kommenden zehn Jahre massiv in Infrastruktur investiert werden kann.
Und zum Schluss eine persönliche Bilanz: Worüber haben Sie in diesem Jahr politisch am meisten gefreut?
Über das Wahlergebnis in Polen und den Sieg der demokratischen Kräfte um den neuen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Ich selbst habe unsere polnische Schwesterpartei zwei Mal im Wahlkampf unterstützt und dabei erlebt, wie Deutschland von Vertretern der damals noch regierenden PiS-Partei beschimpft wurde. Dass diese Kräfte nun abgewählt wurden, ist ein wichtiges Zeichen für ein starkes, geeintes Europa.
Ihr größter politischer Wunsch für das Jahr 2024?
Frieden. In der Ukraine, indem Putin seine Truppen zurückzieht. Im Nahen Osten, indem die Situation dort nicht weiter eskaliert und die Zwei-Staatenlösung für Israelis und Palästinenser wieder eine Perspektive bekommt. Und ich wünsche mir im kommenden Jahr auch mehr Friedlichkeit in Deutschland, dass die gesellschaftlichen Spannungen und die Polarisierung zurückgehen. Wir waren immer ein Land mit einem starken Miteinander.
Interview: Jürgen Wermser