Redebedarf in den Schulen ist riesengroß
Der Krieg in der Ukraine hat die Schüler des Gymnasiums Munster – und wohl nicht nur die – aufgewühlt und mit Fragen konfrontiert, die zuvor schon durch die Medien gegangen sind, aber auch aus unmittelbarem Erleben als Munsteraner Kinder naheliegend sind. Wird mein Vater, meine Mutter, mein Onkel, meine Tante oder ein Freund beziehungsweise Bekannter der Familie, der in Litauen stationiert ist, in den Krieg in der Ukraine hineingezogen? Und: Müssen wir mit einem Atomschlag von Putin rechnen?
Diese und ähnliche Fragen kamen in den Schulklassen auf und erforderten Antworten. Politik- und Religionslehrer Felix Schenk hat das ebenso wie seine Kollegen thematisiert. „Doch das ist ein komplexes Thema“, erklärt er und erzählt, dass zum Verstehen der Situation bis vor den Zweiten Weltkrieg zurückgegangen werden müsse. Selbst als Politik- und Geschichtslehrer sei es schon schwer, Erklärungen zu geben, seinen naturwissenschaftlichen Kollegen werde dies umso schwerer fallen. Schenk betonte aber, dass dieser Krieg nicht der eines Volkes, sondern der eines Menschen sei.
Rafaela Großmann-Meyer, Koordinatorin der Sekundarstufe I, ergänzte, dass die Schüler schon viel im Elternhaus besprochen haben. „Die Kollegen mussten es im Unterricht auffangen. Es gab großen Redebedarf.“ Emotional sei bei den Schülern viel aufgestaut, gerade vor dem Hintergrund von zwei Jahren Corona.
Hans-Georg Kranz, Fachobmann für Religion und Beratungslehrer am Munsteraner Gymnasium, erklärte, dass die Schule aus diesem Grund einen Raum geschaffen habe, in dem die Schüler ihre Gefühle, ihre Angst und Sprachlosigkeit ausdrücken können. Diesen „Raum der Stille“ habe die Schule bereits früher nach einem Todesfall in der Schülerschaft eingerichtet und damit gute Erfahrungen gemacht.
Schulleiterin Silke Meyer führte dazu aus, dass dieser Raum ab dem heutigen Dienstag hinter dem Vorhang auf der Bühne der Aula eingerichtet und am Vormittag durchgehend mit Gesprächspartnern – mit Lehrern, eventuell mit Eltern – besetzt sei. Pastorin Kerstin Wackerbarth habe ebenfalls ihre Hilfe angeboten. „Die Schüler können dort über ihre Ängste sprechen oder diese beispielsweise durch Malen ausdrücken. Sollten Schüler und Schülerinnen dem Unterricht aufgrund der psychischen Belastung nicht folgen können, dürfen sie – mit Maske versehen – diesen Raum aufsuchen.“
Doch das ist nicht das einzige Angebot, das das Gymnasium seinen Schülern macht, um diese aufzufangen und zu begleiten. Wie Schulleiterin Meyer weiter ausführte, bekommen die Klassenlehrer bis Donnerstag die Gelegenheit, mit ihren Schülern ein Plakat, ein Gedicht, ein Lied oder ähnliches anzufertigen, aus denen „ihre Positionierung zu diesem schrecklichen Krieg deutlich wird“.
Am Donnerstag würden sich Schüler und Lehrer in der ersten Pause auf dem Schulhof treffen. Dort könnten die Klassen ihren Beitrag präsentieren. „Danach begeben wir uns in einem Zug auf den Weg zum Rathausplatz. Dort werden wir als Statement für den Wunsch nach Frieden das Lied Imagine von John Lennon singen“, kündigt Meyer an. Vielleicht biete es sich sogar an, im Englischunterricht über diesen Text zu sprechen. Anschließend kehren Schüler und Lehrer zurück in die Schule.
Bereits am vergangenen Donnerstag hatte Schulleiter Mani Taghi-Khani das Kollegium der KGS Schneverdingen gebeten, sensibel auf die Schüler einzugehen. „Sofern ihr in einer Lerngruppe den Eindruck habt, dass Gesprächsbedarf besteht, bittet euch die Schulleitung, den Schülerinnen und Schülern in den nächsten Tagen die Möglichkeit zu geben, über den Krieg zu sprechen. Dabei ist das Fach vollkommen unerheblich. Gebt unseren Schülern bitte die Möglichkeit, sich zu äußern, Eindrücke zu schildern und gegebenenfalls auch Ängste zu formulieren. Lasst dann bitte unbedingt auch Fragen zu.“
"In der Verantwortung, Schülern zuzuhören"
Niemand erwarte, dass die politische Weltlage korrekt analysiert und historisch-komplexe Sachverhalte korrekt wiedergegeben würden. „Aber wir alle sind in der Verantwortung, unseren Schülern zuzuhören – jetzt mehr denn je“, so Taghi-Khani.
Dass es diesen Gesprächsbedarf gibt, hätten die vergangenen Tage gezeigt. Man dürfe nicht vergessen, welchen Eindrücken die Schüler durch die Möglichkeiten der digitalen Medien ausgesetzt seien. „Grundsätzlich gilt für uns alle, hier wirklich sensibel sein. Zum einen, weil wir auch russlandstämmige Schüler haben. Zum anderen müssen wir aufpassen, dass wir die Kinder und Jugendlichen nicht mit zu vielen Informationen belasten und die Erziehungsberechtigten so in eine Überforderungssituation bringen.“ Man dürfe nicht vergessen, dass die Familien bereits seit zwei Jahren in eine Ausnahmesituation durch die Coronapandemie bewältigen müssen.
Darüber hinaus gibt es laut dem Schulleiter viel Bewegung in Schule und Umfeld, um sich für die Ukraine zu engagieren und sich mit ihr zu solidarisieren. So seien laut deutsch-polnischer Gesellschaft (DPG) etwa 200 Familien aus der Ukraine in die Schneverdinger Partnerstadt Barlinek in Polen geflohen. Die KGS möchte sich an einer Spendenaktion für diese Familien beteiligen, die die DPG gemeinsam mit dem Lions-Club initiiert habe.
Ein ähnliches Engagement plant das Gymnasium in Soltau in ihrer Partnerschule im südpolnischen Brzesko. Zu der Einrichtung hatte Schulleiter Volker Wrigge kurzfristig Kontakt aufgenommen, die dortige Partnerschaftskoordinatorin per Whats-App angeschrieben. In Brzesko bereiten sich die Einwohner aktuell auf die Ankunft von Flüchtlingen vor. Eine an die Schule angrenzende Jugendherberge ist für 100 Hilfesuchende vorbereitet. Die Stadt liegt nur rund zwei Fahrstunden von der ukrainischen Grenze entfernt.
An der Hilfsaktion wollen sich die Soltauer beteiligen. Noch ist dafür nicht grünes Licht gegeben worden. Aber Spenden wie Windeln, Milchpulver, Babynahrung, warme Sachen und Decken könnten kurzfristig gesammelt werden, meint Wrigge. Schon am Wochenende hat er mit Elternvertretern telefoniert, ein Transport nach Brzesko wäre so gut wie organisiert. Doch noch reiche die Hilfsbereitschaft vor Ort in Polen.
Das Soltauer Gymnasium hat auch nach außen ein deutliches Zeichen gesetzt. Bereits seit Freitagmorgen weht die ukrainische Flagge als Zeichen der Verbundenheit über dem Schulgelände. Aus Soltauer Sicht ist zumindest technisch das schnell umsetzbar gewesen: Gelb und blau sind schließlich die Stadtfarben, umgekehrt werden sie zu den ukrainischen Farben. Auch vor dem Rathaus ist inzwischen eine ukrainische Flagge gehisst.
Auf Wohlwollen traf das Engagement aus Soltau auch in Brzesko. Auf Facebook teilte die Schule ein Foto vom Gymnasium Soltau mit ukrainischer Flagge und einem eingeblendeten Zitat Bundeskanzlers Olaf Scholz. Die Schule in Südpolen würdigte, dass auch einfache Menschen ihre Solidarität mit dem ukrainischen Volk bekennen würden. „Mit Stolz schauen wir auf das Foto, das wir von unseren Freunden aus dem Gymnasium Soltau bekommen haben.“
Thementag Ukraine am Gymnasium Soltau
Am Montagnachmittag wandte sich Wrigge schließlich an die Schulgemeinschaft. Gleichzeitig wie in der politischen Partnerschule soll auch am Gymnasium Soltau am kommenden Donnerstag ein „Thementag Ukraine“ stattfinden.
Der Tag soll Raum geben für Gespräche, Gefühle, Ängste und Sorgen im Zusammenhang mit dem Thema Krieg. „Wir sind entschlossen und wir handeln geschlossen. Darin liegt unsere Stärke als freie Demokratien. Putin wird nicht gewinnen“, zitiert Wrigge zudem erneut Bundeskanzler Scholz.
In der Schule selbst habe es inzwischen viele Gespräche in den Klassen zum Krieg mitten in Europa gegeben. Der Redebedarf sei riesengroß, sagt Wrigge: „Wir ermöglichen die Gespräche“, erklärt auch Religionslehrer Marc Struckmann. Es sei wichtig, den Befürchtungen und Sorgen Raum im Unterricht zu geben. Zudem werde für das Kollegium aktuell eine Handlungsanleitung vorbereitet.
Kontakt zur russischen Partnerschule in Smolensk nimmt Wrigge aktuell nicht auf, auch um niemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Deutlich wird er allerdings gegenüber dem einen oder anderen Schüler, der einen angeblichen Angriffskrieg der Ukraine auf das friedliche Russland beklagt und meint, dass der Westen Putin zu sehr gereizt habe. „Diesen Personen sei dringend empfohlen, ihre Meinungen noch einmal einem kritischen Faktencheck zu unterziehen und zwar in unabhängigen Medien.“