„Risikolosen Drogenkonsum gibt es nicht"
Kulturwissenschaftler Tim Berthold leitet die Fachstelle für Suchtprävention der anonymen Drogenberatung der AWO Weser-Ems in Delmenhorst und arbeitet im Cannabis-Unterausschuss des Wohlfahrtsverbands mit an einem Positionspapier zur Legalisierung. Außerdem sitzt er im Fachausschuss Prävention der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, der sich aktuell mit dem gleichen Thema beschäftigt. Die Stadt Delmenhorst belegte 2020 im bundesweiten Wettbewerb „Vorbildliche Strategien kommunaler Suchtprävention“ den zweiten Platz. Im Interview spricht Berthold über Chancen und Risiken der neuen deutschen Drogenpolitik.
Verglichen mit anderen Drogen genießt Cannabis ein erstaunlich positives Image. Woran liegt das?
Tim Berthold: Ursprünglich hatte Cannabis, insbesondere in den USA, ein negatives Image. Das hat sich stark gewandelt, auch als Folge der Flower-Power-Bewegung der 70-er Jahre, die ja zumindest als gewaltfrei galt. Sie prägt bis heute das Bild vom friedlichen Kiffer, der niemanden stört. „Hasch macht lasch“, heißt es nicht ganz zu Unrecht, aber das wird eher als individuelles Problem wahrgenommen. Cannabis steht nicht im Ruf, große gesellschaftliche Schäden zu verursachen. Die Droge löst, soweit bekannt, keine körperlichen Schäden aus. Und die psychischen Folgen werden kaum öffentlich thematisiert. Die sind für viele einfach weniger greifbar als zum Beispiel Krebserkrankungen durch Alkohol oder Tabak. Es gibt sogar immer noch den Mythos vom gesunden Cannabis. Dabei sind positive medizinische Effekte nur für ganz wenige Bereiche nachweisbar.
Was ist mit den vielen vermeintlich gesundheitsfördernden Hanf-Produkten?
Hanf ist eine alte Nutzpflanze, aus ihr werden unter anderem Taschen und Kleidung hergestellt. Das ist auch sinnvoll – im Gegensatz Hanf-Produkten wie Öle, Kapseln oder Duschgels. In der Vermarktung werden Wirksamkeiten konstruiert, die nicht oder erst bei sehr viel höheren Dosierungen nachweisbar sind. Jan Böhmermann hat das mal sehr treffend beschrieben als Homöopathie für Leute, die zu klug sind, um an Homöopathie zu glauben. Solche Lifestyle-Produkte vermitteln eine sehr fragwürdige Botschaft.
Welche psychischen Schäden kann Cannabis im schlimmsten Fall nach sich ziehen?
Zunächst einmal kann Cannabis abhängig machen. Sicher belegt ist zudem der Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und Psychosen. Unklar ist dabei, ob der Cannabis-Wirkstoff THC allein kausal Psychosen auslösen kann. Möglicherweise treten sie nur bei entsprechender genetischer Prädisposition auf. Für den Konsumenten ist das gleichgültig: Er weiß ja nicht, ob er genetisch vorbelastet ist oder nicht.
Nehmen Sie die deutsche Drogenpolitik als restriktiv oder akzeptierend wahr?
Das ist so ein Zwischending. Bei illegalen Drogen ist sie noch ziemlich restriktiv, bei Alkohol und Tabak widersprüchlich. Das Werbeverbot für Tabak wird nicht konsequent umgesetzt. Alkohol wird verharmlost und normalisiert. Dahinter steckt die sehr erfolgreiche Lobbyarbeit der Industrie. Abstinenzler und trockene Alkoholiker oder auch Drogenabhängige, die ihre Sucht in den Griff bekommen haben, werden immer noch stigmatisiert und sind eigentlich schlechter angesehen als diejenigen, die ohne Probleme kiffen oder gut trinken können. Das Verständnis für nachhaltige Prävention und Suchthilfe, die in der Kita anfängt und bis in die Altersheime reicht, fehlt oft. Die Legalisierung von Cannabis könnte Anlass sein, die vorgegebene Normalität einmal grundsätzlich zu hinterfragen. Warum gibt es Alkohol in Supermärkten und Tankstellen? Man könnte ihn stattdessen unter kontrollierten Bedingungen in lizenzierten Geschäften verkaufen, wie es für Cannabis vorgesehen ist. Die Ungleichbehandlung verschiedener Drogen, losgelöst vom gesellschaftlichen Schaden, den sie anrichten, lässt sich in einer individualisierten Gesellschaft mit unterschiedlichen Nutzergruppen nicht mehr so einfach damit rechtfertigen, dass Tabak und Alkohol kulturell irgendwie dazugehören.
Welche Rolle spielt Cannabis in der Präventionsarbeit und was ändert sich durch die Legalisierung?
Da kann ich nur für unsere Arbeit sprechen. Unser Fokus liegt auf Kinder und Jugendliche, deshalb sind die Hauptthemen Alkohol, Tabak und Cannabis. Das sind die Drogen, mit denen sie in der Regel in Kontakt kommen. Unser Ziel ist es, sie kompetent zu machen, damit sie für sich eigene Entscheidungen treffen können. Daran wird sich durch die Legalisierung nichts ändern. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es einfacher wird, offen über Cannabis zu sprechen. Bislang ist das noch schwieriger als bei Tabak und Alkohol. Manchmal wird Cannabis ganz ausgeklammert, weil die Schule oder Eltern das so wollen.
Das Internet gibt Menschen heute ganz andere Möglichkeiten als früher, sich über Drogen zu informieren. Macht das Verbote überflüssig?
Mit dem Internet ist das so eine Sache, da findet man auch viel Desinformation. Trotzdem denke ich, dass wir auf einem ganz guten Weg sind. Kenntnisse über die Risiken von Drogen gehören heute zum Allgemeinwissen. Auf der anderen Seite steht die Beeinflussung von Konsumenten durch die immer noch starke Alkohol- und Tabaklobby. Aufklärungs- und Präventionsarbeit bleibt als Gegengewicht wichtig und muss entsprechend finanziert werden.
„Cannabis-Verbot hat Wirkung verfehlt"
Wie bewerten Sie die Cannabis-Legalisierung?
Grundsätzlich finde ich gut, dass sich was verändert. Die Verbotspolitik hat nicht die gewünschte Wirkung erzielt, sie war vermutlich sogar schädlich. Wir haben heute sehr viele Cannabis-Konsumenten. Es macht keinen Sinn, die zu kriminalisieren. Entscheidend ist, dass man die Legalisierung gut hinbekommt und Fehler anderer Länder vermeidet. Die Niederländer haben große Kriminalitätsprobleme, Uruguay hat zu geringe Produktionskapazitäten, in Kanada herrscht Überproduktion und außerhalb der Ballungsräume fehlen Verkaufsstellen. Einen ganz guten Weg hat man in der kanadischen Provinz Quèbec eingeschlagen. Dort sind staatliche Stellen für den Verkauf zuständig, es wurden Strafen für die Abgabe von Cannabis an Minderjährige eingeführt und hoch dosierte Cannabis-Produkte wie Öle verboten.
Apropos hoch dosiert: Stimmt es eigentlich, dass Cannabis heute einen viel höheren Wirkungsgrad hat als das Zeug, das die Hippies geraucht haben?
Der durchschnittliche THC-Gehalt in Cannabis beträgt heute zwölf Prozent, in den 70-er Jahren war es ein Prozent. Das ist vor allem eine wichtige Botschaft an alle Eltern, die aus ihren eigenen Konsum-Erfahrungen ableiten, dass Cannabis harmlos sei. Sie übersehen dabei, dass das Zeug heute im Schnitt zwölfmal so stark ist. In Extremfällen auch 30-mal stärker. Das macht die Dosierung für unerfahrene Konsumenten deutlich schwieriger und erhöht das Risiko für Psychosen. Ein Vorteil der Legalisierung besteht auch darin, genau zu wissen, wie hoch der THC-Gehalt ist. Auf dem Schwarzmarkt kursiert sogar THC-freies Cannabis, das einfach mit synthetischen THC eingesprüht wird. Das macht den Konsum nochmals deutlich gefährlicher.
Kokain legalisieren? „Es geht um aufgeklärten Konsum"
Sprächen die Argumente für eine Legalisierung von Cannabis nicht ebenso für die Entkriminalisierung härterer Drogen wie Kokain?
Im Prinzip fände ich das eine spannende Zukunftsaussicht. Das setzt aber viel voraus, vor allem guten Jugendschutz. Das ist nicht damit getan, die Abgabe an ein Mindestalter von 18 oder 21 zu knüpfen. Wir sehen beim Alkohol, dass solche Gesetze allein nicht ausreichen. Notwendig ist Prävention und Aufklärung. Portugal könnte uns ein Vorbild sein. Die haben Drogen nicht legalisiert, setzen aber, wenn jemand mit Drogen erwischt wird, konsequent auf Hilfe statt Strafe. Wobei das durchaus mit Härte und strengen Auflagen verbunden sein kann. Ergebnis ist ein starker Rückgang beim problematischen Konsum. Es geht immer darum, Suchtkranken bestmöglich zu helfen und gleichzeitig ein größtmögliches Maß an Freiheit zu gewährleisten. Das ist das Spannungsfeld. Eine Substanz allein löst niemals eine Suchterkrankung aus. Es kommt stets auf das soziale Umfeld, die Gesellschaft sowie die einzelne Person und deren genetische Disposition an. Einer wird abhängig, der andere nicht. Das ist individuell sehr unterschiedlich. Im Idealfall würde die komplette Freigabe und Akzeptanz von Drogen mit einer stark individualisierten Prävention einhergehen. Risikolosen Drogenkonsum gibt es nicht. Es geht um die Minimierung von Schäden, um aufgeklärten, möglichst risikoarmen Konsum. Natürlich ist Abstinenz immer der sicherste Weg. Aber das ist nun einmal nicht für jeden ein ansprechender Lebensentwurf.