Wird Impfturbo ein Rohrkrepierer?
Größtmöglicher Schutz und entsprechende Vorkehrungen sind in der Schneverdinger Hausarztpraxis, die Dr. Wilfried Kahl mit seiner Kollegin Dr. Stephanie Schween betreibt, selbstverständlich, der Mund-Nase-Schutz obligatorisch. Was seine Gemütslage nach den jüngsten Ankündigung von Noch-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Biontech-Auslieferungen zu rationieren, betrifft, da nimmt Kahl aber kein Blatt vor den Mund: „Ich habe die Nase voll.“ Für seine Mitarbeiter, ihn selbst und viele Ärztekollegen sei „irgendwann das Limit erreicht“, weil Praxen „Knüppel zwischen die Beine geworfen“ würden.
Bis Jahresende sollen bundesweit Millionen Menschen eine Boosterimpfung, eine Auffrischung, bekommen, um die vierte Coronawelle mit explodierenden Infiziertenzahlen zu brechen. Doch das Gesundheitsministerium wolle ausgerechnet jetzt die Auslieferung des Covid-Impfstoffs von Biontech/Pfizer, dem Vakzin mit der größten Wirkung und der höchsten Akzeptanz, an die niedergelassenen Ärzte zurückfahren. Stattdessen solle ab der kommenden Woche der Impfstoff Spikevax des US-Konzerns Moderna vermehrt zum Einsatz kommen. Am Freitagnachmittag, keine 24 Stunden nach den dramatischen Appellen der Bundesregierung und der Ministerpräsidentenkonferenz, die Impfbereitschaft und -quote zu erhöhen, sorgte diese Ansage nicht nur in Ärztekreisen für Aufregung.
Was Kahl und die Vertreter seines Berufsstands auf die Palme bringt, ist neben einer drohenden Verknappung des bewährten Impfstoffs selbst auch die Begründung. Grund sei offenbar kein Beschaffungsproblem – Biontech stünde ausreichend zur Verfügung, sagt der Hausärzteverband – sondern wirtschaftliche Überlegungen. Das Ministerium begründe dies mit dem drohenden Verfall der eingelagerten Dosen des Moderna-Impfstoffes ab Mitte des ersten Quartals 2022. Auch aus der Politik gibt es Kritik daran, die Frage, warum das Ministerium vor dem Hintergrund eines möglichen Moderna-Verfalls nicht früher damit angefangen hat, den Impfstoff anders zu verteilen.
Niedergelassene Ärzte sollen ab dem 29. November (48. Kalenderwoche) nur noch 30 Biontech-Impfdosen bekommen und den Restbedarf mit Modernas Spikevax abdecken. Für die Schneverdinger Gemeinschaftspraxis, in der seit längerem nach einem detaillierten Ablaufplan an mehreren Tagen wöchentlich 120 Personen mit Biontech geimpft werden, heiße das, dass sie dann nur noch die Menge für 60 Personen geliefert bekomme und der anderen Hälfte nur Moderna anbieten könne. Wer das ablehne und auf dem zugesagten Biontech beharre – die Termine sind ja schon fest vereinbart und bisher wünschten nur fünf Prozent der Patienten Spikevax, den müsse man auf einen Termin im Februar vertrösten. Das werde für zeitlichen Verzug und weitere Anspannung bei der Covid-Lage sorgen. Zudem habe man sich als sogenannte Impfpraxis beworben und den Zuschlag für die 49. Kalenderwoche erhalten. Im wöchentlichen Wechsel sollen niedersachsenweit 180 Praxen, davon drei davon im Heidekreis, zusätzlich acht Stunden pro Woche auch Patienten anderer Praxen impfen, um den „Impfturbo“ zu zünden (BZ berichtete). Ohne den Biontech-Impfstoff würde aber aus dem Turbo ein Rohrkrepierer, ist Kahl pessimistisch.
Moderna grundsätzlich geeignet, aber Akzeptanzproblem
Dabei betont er, dass das Moderna-Vakzin grundsätzlich als Corona-Impfstoff geeignet und in Deutschland ab 18 Jahren zugelassen sei. Da bei jüngeren Menschen ein erhöhtes Risiko für Herz-Muskelentzündungen auftreten könne, empfehle die Ständige Impfkommission (Stiko) aber einen Einsatz erst bei Personen ab 30 Jahren. Auch in anderen Ländern, beispielsweise Dänemark und Schweden, werde Moderna nicht mehr an jüngere Menschen verabreicht. Die Ankündigung aus dem Ministerium führe zu einem Vertrauensverlust und habe so das Potenzial, erneut Chaos in den Praxen zu schüren und die Impfkampagne um mehrere Wochen zurückzuwerfen, sagt der Hausärzteverband. Denn „unüberlegte Änderungen von versprochenen Impfstofflieferungen“ sorgten bei den Patienten erneut für Verunsicherung und zu einer verminderten Impfbereitschaft. Kahl erinnert an das Hin und Her der Impfdebatte im April, als plötzlich ohne Vorankündigung der Impfstoff auf 18 Dosen reduziert wurde, um die Impfzentren beliefern zu können – bereits vergebene Termine mussten auch damals mühsam umgelegt werden –, und im Juli, als „von jetzt auf gleich Astra-Zeneca draußen“ und die Verunsicherung groß gewesen sei.
Der Schneverdinger Arzt will seinen Gang an die Öffentlichkeit als „Weckruf von unten“ verstanden wissen – vor allem im Interesse der zu impfenden Bevölkerung, aber auch der Motivation seines Praxisteams. Das arbeite seit Februar 2020 am Limit, erarbeite Pläne für einen möglichst optimalen Ablauf der Coronaimpfungen – neben dem regulären Praxisalltag, der bei allen Herausforderungen und zusätzlichem Zeitaufwand durch Corona weiterlaufen müsse. „Wir machen das gern für unsere Patienten“, versichert Stephanie Schween. Aber es sei zehrend und oft frustrierend, vor allem wenn bewährte Konzepte durch nicht nachvollziehbare Entscheidungen der Politik über den Haufen geworfen würden.
Vielleicht werde der Weckruf ja von den „Protagonisten vor Ort“ gehört, so Kahls Hoffnung, damit diese Druck machen gegen die ankündigten Biontech-Rationierung. Da denke er an Landrat Jens Grote, der als Chef der Kreisverwaltung für die Koordinierung der Corona-Maßnahmen zuständig sei, und auch an den hiesigen Bundestagsabgeordneten Lars Klingbeil, der als SPD-Generalsekretär und designierter Bundesvorsitzender bundespolitischen Einfluss habe und „vielleicht noch etwas bewegen kann“.