Leid behinderter Kinder in Heimen wird aufgearbeitet

Der Umgang mit Heimkindern in der 1960er und 70er Jahren war in der Bundesrepublik von Gewalt geprägt.

„Es war durch die Bank auch für uns sehr belastend“, sagte Heiner Fangerau vergangenen Monat bei der Vorstellung eines Abschlussberichts mit dem düsteren Titel „Leid und Unrecht“. Rund vier Jahre lang war der Professor für Geschichte und Ethik der Medizin Teil eines interdisziplinär zusammengesetzten Forschungsteams, das den Auftrag hatte, Licht auf ein dunkles Kapitel deutscher Sozialgeschichte zu werfen: den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie in der jungen Bundesrepublik und der DDR.

Betroffene und Patientenakten erzählen erschreckende Geschichten

Es ist eine aufwendige Spurensuche, die jetzt ein vorläufiges Ende fand. In ihrem Zentrum standen Gespräche mit noch lebenden Zeitzeugen und die Auswertung von Archivmaterial. In der Arbeit mit solchen Quellen bemühe sich ein Historiker stets um Neutralität, erklärte Fangerau. „Aber wenn man diese Akten gesehen und diese Geschichten gehört hat, überfällt einem schnell eine Art heiliger Zorn.“ Erschreckende Schilderungen seien das, „zum Teil kaum vorstellbar“.

Der 830 Seiten umfassende Abschlussbericht ist starker Tobak. Sichtbar wird eine Art Parallelwelt, in der Kinder und Jugendliche hinter Mauern verschwinden und schutzlos dem Anstaltspersonal ausgeliefert sind. Sie wurden „bereits im Zuge der Aufnahme beziehungsweise Einweisung nahezu vollständig von ihrem bisherigen Leben abgeschnitten“, so ein Ergebnis der Untersuchung. Elternbesuche seien in den geografisch abgelegenen Einrichtungen nur in Ausnahmefällen möglich gewesen, schriftliche Auskünfte der Heimleitungen über das Befinden ihrer Schutzbefohlenen „stets formelhaft, knapp und vage, teilweise auch beschönigend“ erteilt worden. „Das Schicksal dieser Kinder wurde ignoriert, sie fanden in der Öffentlichkeit einfach nicht statt“, konstatiert Fangerau im BZ-Interview. Die Stiftung Anerkennung und Hilfe, die den Forschungsauftrag an Fangerau und sein Team vergeben hat, verfolgt neben der finanziellen Entschädigung noch lebender Opfer das Ziel, eine regionale Erinnerungskur zu etablieren.

Ein Fallbeispiel mit Bezug zum Heidekreis

Wichtige Quelle zur Aufarbeitung sind Patientenakten aus den 1960er und 1970er Jahren. Die Böhme-Zeitung rekonstruiert anhand einer im Niedersächsischen Staatsarchiv verwahrten Akte aus dieser Zeit das Schicksal eines geistig behinderten Mädchens, das in verschiedenen Einrichtungen großes Leid und Unrecht erlebt, bevor sich ihre Spur im Heidekreis verliert. Unter anderem enthält die Akte einen Hinweis darauf, dass die Jugendliche in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf Opfer eines Medikamentenversuchs wurde. Entdeckt wurde dieser Hinweis durch Recherchen für eine wissenschaftliche Studie, die 2020 großes Aufsehen erregte.

Grundrechte außer Kraft

In der jungen Bundesrepublik waren geschlossene Kinder- und Jugendpsychiatrien sowie Einrichtungen der Behindertenhilfe faktisch rechtsfreie Räume. Erziehungsbefugnisse der Eltern gingen mit der Einweisung auf die Einrichtung über. Die Minderjährigen befanden sich in den Heimen und Heilanstalten in einem „besonderen Gewaltverhältnis“. Das heißt, ihre Grundrechte waren weitgehend außer Kraft gesetzt. 1968 stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass Kinder eigene Menschenwürde und ein Grundrecht auf Persönlichkeitsentfaltung genießen. 1972 erklärte es die Einstufung von stationären Einrichtungen der Jugendhilfe als „besonderes Gewaltverhältnis“ als unvereinbar mit dem Grundgesetz.

Artikel des TagesAndre Ricci