1870/71 – Der blutige Weg zum Kaiserreich
*150 Jahre deutsch-französischer Krieg und das Ende des Bispingers August Wolter vom Heideregiment
Heidekreis. Als am 6. August 1870 die Schlacht bei Spichern tobt, ist sie keineswegs für den deutsch-französischen Krieg entscheidend, für den Bispinger August Wolter indessen schon. Eine französische Kugel macht dem Leben des 28-jährigen Füsiliers des 2. Hannoverschen Infanterie-Regiment Nr. 77, das nicht ohne Stolz auch das Heideregiment genannt wird, ein jähes Ende. Der Sohn des Bispinger Küsters ist einer der ersten Gefallenen des damaligen Kreises Fallingbostel und heutigen Heidekreises, soweit das zumindest mit Blick in das Archiv der Böhme-Zeitung nachvollziehbar ist. Eine Traueranzeige der Familie erinnert an den Heidjer.
Das 1866 aufgestellte und bis 1919 fortbestehende Heideregiment hatte an diesem Tag in der Schlacht bei Spichern nahe Saarbrücken seine Feuertaufe erhalten – für Wolter war dieser Anfang sein Ende.
Als vor 150 Jahren der französische Kaiser Napoleon III. Preußen den Krieg erklärte, war dies für Frankreich eine notwendige Zuspitzung seiner verfahrenen innen- und außenpolitischen Situation. Einerseits suchte er sicherheitspolitisches Abkommen mit Österreich, wollte andererseits den Habsburgern keine Absicherung mit Blick auf Russland gewähren.
Die wachsende Bedeutung Preußens nach dem deutsch-dänischen Krieg 1864 und dem deutsch-deutschen Krieg 1866 war für Napoleon III. nicht minder heikel – auch innenpolitisch nicht. Die in Deutschland schwelende Frage nach nationaler Einheit, die nur vier Jahre nach der preußischen Annexion des Königreichs Hannover und dem damit verbundenen Sturz der Welfen selbst in der Provinz erstaunlich schnell um sich griff, sprach für ein baldiges Ende des für Frankreich günstigen Ausgangs des Wiener Kongresses von 1815, in dem zahlreiche kleine deutsche Staaten Paris kaum gefährlich werden konnten.
Der Kaiser der Franzosen saß innenpolitisch nicht fest im Sattel, der revolutionäre Gedanke von einer Republik lag über Paris. Der Versuch einer Kandidatur des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen für den spanischen Thron, brachte das ohnehin volle Fass zum Überlaufen. Zwar zog Leopold seine Kandidatur aufgrund von Protesten in Paris zurück. Napoleon III. wollte allerdings darüber hinaus eine Garantie, dass es auch künftig keine Kandidatur mehr geben werde. Mit der berühmt gewordenen Emser Depeche lehnte Preußens König Wilhelm I. diese Garantie ab. Eine Verkürzung des Telegrammtextes durch Otto von Bismarck führte dazu, dass Napoleon III. sich brüskiert sah und am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärte.
Bismarck lenkt die Presse
Die Berichte der Böhme-Zeitung geben die Preußen- und auch die Kriegsbegeisterung wieder. Selbst Deutsche, die nach Amerika ausgewandert waren, kehrten heim, um für Preußen zu den Waffen zu greifen. Zurückhaltend und welfentreu waren allenfalls Teile des Adels. Da Preußen nach der Annexion allerdings für die Provinz Hannover durch eine fortschrittliche Verwaltung einerseits und einen hohen Grad an Selbstständigkeit auch wirtschaftliches Wachstum brachte, musste Bismarck sich um die Loyalität der Bevölkerung keine Gedanken machen.
Die Böhme-Zeitung berichtete über den Kriegsverlauf, besonders über jede Beteiligung an Schlachten seitens Einheiten aus der Provinz. So hatten an den Gefechten um Metz Mitte August die zum 7. Armeekorps gehörenden Hannoverschen Infanterie-Regimenter Nr. 73, 74 und 77 sowie das Hannoversche Husaren-Regiment teilgenommen. Skurril wirkt ein Bericht über einen Feldwebel Meyer, dem ersten Eroberer einer französischen Kanone, der aus Hannover stammen soll. Noch während des eher kurzen Kriegsverlaufs bietet die Böhme-Zeitung am 23. August ihren Lesern für 2 Silbergroschen eine Kriegschronik an sowie für 2,5 Silbergroschen Kriegsbilder, die die Schlacht bei Wörth vom 6. August zeigen. Daheim wird mitgefiebert.
Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck lenkt allerdings die Presse über seinen persönlichen Pressesprecher Dr. Moritz Busch, dem gegenüber Bismarck erklärt, wenn er sich ein Bild verschaffen wolle, lese er eher Archivdepechen als die (von ihm gelenkte) Presse. Die Böhme-Zeitung gibt 1870/71 den Kriegsverlauf wohl auch daher nur bruchstückhaft wieder, wie es meist in Kriegszeiten ist. Gleichwohl lassen Quellen zum Kriegsverlauf den 6. August und das Sterben des Bispingers August Wolter einigermaßen rekonstruieren.
Nach dem nachrangigen Gefecht um Saarbrücken vom 2. August 1870, das den Beginn des wochenlangen Waffengangs markiert, mussten sich die Franzosen bereits nach zwei Tagen aus Saarbrücken wieder zurückziehen. Der Rückzug erfolgte auf den sogenannten Roten Berg, ein steil aufsteigender Bergkamm nördlich der Grenzortschaft Spichern südlich von Saarbrücken. Drei französische Divisionen konnten von hieraus mit Artillerie das Umland bestreichen und anstürmende Infanterie von oben zurückwerfen.
Es ist ein heißer Tag. Ohne die tatsächliche Stärke der Franzosen zu kennen, lässt der Kommandeur der 14. Division, Generalleutnant Georg von Kameke, unter glühender Sonne den Roten Berg stürmen. Ein „selbstmörderisches“ Unterfangen, wie der Historiker Tobias Arand scharf urteilt. „Wie die deutschen Regimenter den Roten Berg unter Dauerbeschuss stürmen, die französische Artillerie ausschalten und die feindlichen Schützen aus den Gräben vertreiben konnten, wird jedem, der den Berg heute im Frieden und ohne Kugelregen nur mühsam zu erklimmen vermag, völlig rätselhaft bleiben“, so Arand.
Theodor Fontane: "Welche Siege, welche Verluste! ... Noch zwei solcher Siege und wir sind ruiniert"
Kriegsbeobachter Theodor Fontane zitiert aus dem Brief eines Offiziers: „Die Leute waren bereits so erschöpft, dass es mir fast unmöglich erschien, sie auf den Kamm des Berges zu führen. Meine Beine vermochten nicht mehr zu steigen. An den Sträuchern klammerte ich mich an und zog mich an ihnen empor.“ Der Offizier wollte, das belegt der Brief, unter allen Umständen bei seinen Männern bleiben, obwohl er vom „vollständigen Aufhören seiner Kräfte“ schreibt. Er habe sich die tödliche Kugel regelrecht ersehnt.
Die Schrecken des Krieges zeigen sich auch in dem Bericht eines weiteren Kriegsteilnehmers über einen Gardisten, der nach der Teilnahme an einem ersten Gefecht sich weigert, an einem erneuten Angriff teilzunehmen. „Der Mensch heulte vor Angst und wir ließen ihn verachtungsvoll zurück. Nach zwei Stunden wurde er von uns zum Verbandsplatz gebracht, noch immer unverwundet, aber mit röchelndem Atem und offenen Augen; er starb kurze Zeit darauf. Der erste Mensch, den ich aus Angst habe sterben sehen.“ Selbstverachtung und Verachtung liegen dicht beieinander.
16 000 Gefallene bei Spichern und Wörth an einem Tag
Die Franzosen schießen die anstürmenden Preußen regelrecht zusammen. Auch der Bispinger Wolter vom 2. Hannoverschen Infanterie-Regiment stürmt den Roten Berg – und bekommt den tödlichen Schuss. Von etwa 20 000 Deutschen fallen 5000 – gegenüber 4000 toten Franzosen. Die Kämpfe vom 6. August vor 150 Jahren bei Spichern und auch bei Wörth haben mit 16 000 gefallenen Deutschen ein für damalige Verhältnisse gewaltiges Ausmaß.
Selbst der Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte, Preußens König Wilhelm I., zeigt sich erschüttert, und reist vom Hauptquartier nach Spichern, um sich den Soldaten zu zeigen. Der 73-jährige Monarch zeichnet sich durch calvinistische Demut aus, die man ihm offensichtlich auch ansieht und bei einfachen Soldaten wie bei Offizieren ankommt. Die militärische Rücksichtslosigkeit des „Kartätschenprinzen“ von 1848/49 ist ihm mehr als 20 Jahre später verziehen. Doch sein Generalstab scheut auch hier keinen Aderlass.
Die Kämpfe des Tages bringen beiden Seiten neben hohen Opferzahlen aber auch neue Erkenntnisse. So wissen die Franzosen, dass sie die größere Reichweite ihres Chassepot-Gewehrs gegenüber dem deutschen Zündnadelgewehr nutzen können. Das neuartige französische Maschinengewehr, die gefürchtete Mitrailleuse, hat hingegen eher einen psychologischen Effekt, denn einen militärischen Vorteil. Dafür ist die deutsche Artillerie aus dem Hause Krupp der französischen weit überlegen. Und nicht zuletzt: Der deutsche Vorstoß hat die französische Rheinarmee und die Armee General Mac-Mahons geteilt, die Franzosen haben die strategisch wichtige Fühlung zueinander verloren, der Weg der Streitkräfte unter der Führung General Helmuth von Moltkes nach Metz ist frei. Kaiser Napoleon III. hingegen hat in der französischen Generalität keine Autorität mehr. Er überlässt die Führung der Armee nur sechs Tage darauf General Francois-Achille Bazaine.
Sedan: Erneut hoher Blutzoll, aber auch der entscheidende Sieg
Trotz neu gewonnener Erkenntnisse riskiert das deutsche Oberkommando weitere Sturmangriffe mit hohem Blutzoll, sodass Theodor Fontane am 26. August in einem Brief an eine Freundin kritisch vermerkt: „Welche Siege, welche Verluste! ... Noch zwei solcher Siege und – wir sind ruiniert.“
Mit der Schlacht um die Festungsstadt Sedan an der Maas am 1. und 2. September ist der Krieg zugunsten Deutschlands entschieden, wenn auch nicht beendet. Auch hier überwiegt der deutsche Blutzoll von knapp 8500 Gefallenen die französischen Verluste um das fast Dreifache. Kaiser Napoleon III. muss kapitulieren, in Paris wird die Dritte Republik ausgerufen und Deutschland erlangt seine seit 1815 lang ersehnte Einigung, wenn auch ohne den Vielvölkerstaat Österreich im Sinne der kleindeutschen Lösung, und Preußens König wird in Versailles zum Kaiser ausgerufen. Für Bismarck war damit die Zeit der Kriege abgeschlossen – abgesichert durch ein komplexes internationales Vertragswerk, das erst unter Kaiser Wilhelm II. ins Wanken geraten sollte.
Für das Heideregiment steht in Erinnerung an die Schlacht von Spichern übrigens bis heute ein Denkmal auf dem Saarbrücker Waldfriedhof. Doch auch im Heidekreis finden sich noch Gedenksteine. Keiner, der an den Füsilier Wolter erinnert, aber das Soltauer Denkmal an der Bahnhofstraße Ecke Bergstraße listet 4 Gefallene auf, das Schneverdinger Mahnmal auf dem Südfriedhof sogar 72 Gefallene des Kirchspiels – ein enormer Verlust.
150 Jahre nach ihrem Ende sind die drei Einigungskriege 1864, 1866 und 1870/71 nahezu vergessen, wittern die Gedenksteine vor sich hin. In der Heideblütenstadt muss man sich durch Rhododendrenbüsche kämpfen, um alle Namen der Gefallenen zu lesen. Es sind Namen, die zur Entstehungsgeschichte unserer heutigen Bundesstaatlichkeit gehören, Namen wie der des Bispingers August Wolter, an den in Bispingen indessen kein Stein erinnert.