Der Ameisenkönig von Breloh
VON MARCEL MAACK
Nein, das ist keine Rohrpost. Dazu wären die Plexiglas-Rohre viel zu eng. Durch die Röhrchen, die an den Wänden von Andreas Wannagats Hobby-Zimmer verlaufen, flitzen Ameisen. Hunderte Ameisen. Nein, noch viel mehr. Und zwar solche, wie man sie in freier Natur nur in Mittel- und Südamerika antrifft. Der 55-jährige Munsteraner, der mit seiner Frau Brigitte im Ortsteil Breloh wohnt, ist Ameisen-Fan, die Insekten sind seine Leidenschaft.
„Ich hab mich schon als Jugendlicher für Insekten interessiert“, erinnert sich Wannagat, der tagsüber in Celle als Monteur bei einem Autoglas-Reparaturbetrieb arbeitet. „Mit circa 15, 16 Jahren hab ich mit ganz normalen schwarzen Wegameisen angefangen.“ Er fing eine begattete Königin ein – und die gründete dann bei ihm zu Hause einen Staat.
An Ameisen fasziniert ihn deren hohe Aktivität. Das, so glaubt der Insektenfreund, könnte damals der Grund gewesen sein, warum er sich beispielsweise nicht für Regenwürmer entschied. Die südamerikanische Ameisen-Art, der Andreas Wannagat ein Zuhause bietet, nennt sich Atta sexdens. Im Gegensatz zu in Deutschland beheimateten Arten hält diese keinen Winterschlaf. Gut für den Ameisen-Fan, denn so kann er seine kleinen Freundinnen das ganze Jahr über bei deren Aktivitäten beobachten. Jawohl, Freundinnen. Nicht Freunde.
Wannagats Ameisen sind allesamt weiblich. Zwar könnte die Königin auch männliche Nachkommen hervorbringen, sie tut es jedoch nicht. Und was die Weibchen betrifft: Wannagats Königin bringt Arbeiterinnen und Soldatinnen hervor, keine neuen Königinnen. Obwohl sie theoretisch auch das könnte.
Es ist komplizierter als beim Menschen
Wie das alles funktioniert? Sagen wir mal so: Es ist komplizierter als beim Menschen. Eine Ameisenkönigin besitzt anfangs Flügel und startet zum Hochzeitsflug. Hoch oben in der Luft lässt sie sich von einem Männchen begatten. Ist das erfolgt, wirft sie die Flügel ab und das Männchen stirbt. Im Lauf ihres Lebens, das deutlich mehr als zehn Jahre andauern kann, legt die Königin dann immer wieder Eier. Oder wie Andreas Wannagat es formuliert: „Das ist ’ne reine Eierlege-Maschine!“ Die Königin befruchtet die Eier anschließend – mit dem Samen des längst verstorbenen Männchens. Aus diesen befruchteten Eiern entstehen neue Weibchen. Männchen würden aus nicht befruchteten Eiern entstehen.
Doch warum neue Männer erschaffen, wenn diese doch gar nicht gebraucht werden? Der Lebensraum von Wannagats Ameisen ist dafür zu eng, des- halb wird die Königin sich hüten, neue Königinnen und neue Männer hervorzubringen. Die würden nämlich neue Staaten gründen – und dafür bräuchte es mehr Platz. Man bedenke: Beim Lebensraum dieses Ameisen- staates handelt es sich um ein von Wannagat geschaffenes Röhrensystem – und nicht um den milliardenfach größeren tropischen Regenwald.
Wer sich die Plexiglas-Röhren und die damit verbundenen Plastikboxen des 55-Jährigen anschaut, merkt schnell: Viele von Wannagats Ameisen tragen Blätter-Schnipsel durch die Gegend. Sie tragen sie von der Fundstelle hin zu Pilzgewächsen. Das sei das Typische an dieser Art, erzählt Wannagat. Blattschneiderameisen seien es, für die er sich seinerzeit entschieden habe. Diese Ameisen-Art zerschneide Blätter, dann transportiere sie sie zum Pilz, ernähre ihn damit – und im Gegenzug ernährten sich die Ameisen dann von dem Pilz. Keiner könne ohne den anderen leben – der Pilz nicht ohne die Ameisen, die Ameisen nicht ohne den Pilz. Ameisen der Art Atta sexdens sind also Vegetarier. Sie lieben ihre Pilze. Andere Insekten zu verspeisen, wie hiesige Ameisen-Arten es tun, kommt ihnen nicht in den Sinn. Zwar zerkauen Wannagats Ameisen zunächst die Blattschnipsel, den dabei entstehenden Brei spucken sie jedoch wieder aus – hinein in den Pilz, damit dieser wächst und gedeiht. Das Ganze erfolgt in strenger Arbeitsteilung. Ameisen leben in sogenannten Kasten, neben der Königin sind das bei Atta sexdens Soldatinnen, die für das Blätter-Zerschnibbeln zuständigen Blattschneiderinnen sowie die Gärtnerinnen. Letztere durchforsten ständig das Pilzgewächs, halten es sauber und frei von Schädlingen.
Das Plexiglas-Röhrensystem dient den Ameisen als Transportweg, alles andere spielt sich im Wesentlichen in den Kunststoffboxen ab, zu denen die Röhren führen. Jede Box ist so etwas wie ein Zimmer – und jedes Zimmer hat seine eigene Funktion: In eine Box legt Andreas Wannagat Blätter, die er seinen Ameisen von Waldspaziergängen mitbringt; Blattschneider zerschneiden die Blätter hier. In anderen Zimmern wachsen Pilze. Und wiederum ein anderes Zimmer dient als Müllkammer, dort transportieren die Ameisen neben Abfall auch Leichen hin – jedes Ameisenleben endet nunmal irgendwann, das einer Arbeiterin beispielsweise nach zwei bis drei Jahren.
„Die beißen, das tut richtig weh und kann sogar bluten“
Andreas Wannagat hat den komplexen Lebensraum seiner Ameisen selbst gebaut. Er hat runde Löcher in Boxen gebohrt und Rohre auf Länge gesägt, sodass diese exakt an den Löchern enden. Die Verbindungsstellen hat er abgedichtet, damit ihm die Ameisen nicht ausbrechen. Anfangs hat er dafür die Heißklebepistole verwendet – doch die emsigen Ameisendamen haben den Kleber kurzerhand zerbissen. Seitdem benutzt er extrem festes Klebeband, das kriegen die Damen nicht kaputt.
Apropos Beißen: Andreas Wannagat zieht es vor, seinen Ameisen zur Begrüßung lieber nicht die Hand zu reichen. „Die beißen, das tut richtig weh und kann sogar bluten“, weiß er. Er liebt sie trotzdem. Vielleicht auch deshalb bemüht er sich stets um Abwechslung in der Ameisenküche. Er bringt ihnen Löwenzahn mit oder Flieder, auch Apfel, Haselnuss, Himbeer- und Brombeer-Blätter nehmen die Ameisen gern. Und immer gilt: Einige schnibbeln, andere transportieren, wieder andere zerkauen und füttern den Pilz. Die Königin legt derweil weiter Eier, damit ihr Staat nicht schrumpft.
Wie viele Nachkommen sie in die Welt setzt, hängt davon ab, wieviel Platz ihrem Staat zur Verfügung steht. Wer genau hinsieht, stellt fest: Hier und da hat Andreas Wannagat Abzweigungen ins Rohrsystem eingebaut. Noch sind diese mit einem Stopfen verschlossen. Doch wer weiß, vielleicht überkommt den Ameisen-Fan irgendwann die Lust, den Lebensraum seiner Damen um ein paar zusätzliche Rohre und Boxen zu vergrößern. Dann kommt der Stopfen weg, wird der Anbau angestöpselt – und die Königin legt den Turbo ein: Je mehr Raum für ihren Staat exis- tiert, desto mehr Eier und damit Nachwuchs produziert sie.
Wie fleißig sie in den vergangenen Jahren war, beweist ein Blick in die – auf einer groben Schätzung basierende – Bevölkerungsstatistik: Als Andreas Wannagat die Königin im Dezember 2016 kaufte, reiste die Regentin mit ein paar Arbeiterinnen und einem Pilz bei ihm an, das Ganze habe ihn etwas mehr als 100 Euro gekostet. Die heutige Bevölkerungszahl des Staates, so vermutet er, „geht wohl in den fünfstelligen Bereich. 20000 Ameisen? 30000 Ameisen? Das kann ich sehr schlecht sagen.“ Spricht’s und legt ein paar Blätter in die Ameisenküche. Und siehe da: Nur wenige Minuten später strömen die Damen zuhauf dorthin und holen ab, was ihre Kolleginnen soeben kleingeschnibbelt haben. Woher sie wissen, dass „ihr“ Mensch Nachschub geliefert hat? „Ameisen kommunizieren über Pheromone“, erläutert der Ameisen-Freund. Pheromone – das sind Duftstoffe. Es läuft also alles so im Staat, wie es sein soll. Dass dies nicht immer der Fall ist, daran erinnert sich Andreas Wannagat noch heute schmerzlich: „Der erste Moment ist der entscheidende“, sagt er und meint damit die erste Zeit nach dem Einzug des anfangs kleinen Staates. Alles müsse zunächst so sein wie in der eigentlichen Heimat Südameri- ka: 22 bis 27 Grad Celsius, 80 bis 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Erst später seien Abweichungen bis zu einem gewissem Maß möglich, ohne dass die Ameisen sterben würden.
Bevor er seine jetzige Ameisenkolonie kaufte, habe er es mit mehreren anderen Kolonien versucht. „Ich hatte drei oder vier Fehlversuche, der gesamte Staat ist jeweils gestorben.“ Aktuell zeigt das Thermometer bei seinen Ameisen 24,6 Grad. Das Fenster des Hobbyzimmers ist geschlossen. „Das darf ich im Winter auf keinen Fall offenstehen lassen“, sagt Wannagat.
Was sagt seine Frau zu den vielen anderen Frauen?
Stellt sich abschließend eigentlich nur eine Frage: Was sagt Wannagats Ehefrau Brigitte zu so vielen anderen Frauen im Haus? Andreas Wannagat zeigt sich dankbar: „Sie toleriert das, das muss ich ihr hoch anrech- nen.“ Aber was bleibt Brigitte Wannagat auch anderes übrig? Ihr Mann hielt schließlich bereits zu jenem Zeitpunkt Ameisen, als die beiden sich kennenlernten. Und wer eher da ist, den vertreibt man nicht, oder? Und so leben sie denn also alle zufrieden unter einem Dach: Andreas Wannagat und seine Ehefrau Brigitte, die Ameisen und ihre Königin – ach ja, und zwei Katzen gibt’s auch noch im Hause Wannagat in Munster-Breloh.