Einsamkeit: „Was zunimmt, ist die Angst"
Viele Menschen leiden seelisch unter den Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens während der Corona-Pandemie. Der Verlust sozialer Kontakte schmerzt. Die Böhme-Zeitung hat vor diesem Hintergrund die Aktion "Ein Licht gegen Einsamkeit" ins Leben gerufen.
Menschen sind soziale Wesen, erzwungene Einsamkeit kann krank machen. Corona hat die Probleme verschäft, aber Vereinsamung war schon vor der Pandemie ein Thema, auch für die Böhme-Zeitung. Professorin Sonia Lippke, Jahrgang 1974, lehrt und forscht an der Jacobs University Bremen und zählt zu den führenden Einsamkeitsforscherinnen Deutschlands. Die BZ sprach im Winter 2019 mit der Gesundheitspsychologin und Verhaltensmedizinerin darüber, was Einsamkeit eigentlich ist, warum sie so bedrohlich wirkt und wer das größte Risiko hat, tatsächlich zu vereinsamen.
BZ: Wie wird man eigentlich Einsamkeitsforscherin?
Sonia Lippke: Ich bin auf das Thema im Rahmen meiner Habilitation an der FU Berlin gekommen. Zum Abschluss des Habilitationsverfahrens ist ein öffentlicher Vortrag zu halten über ein Forschungsgebiet, mit dem man sich zuvor noch nicht wissenschaftlich beschäftigt hat. Damals gab es gerade eine Studie zum Thema Einsamkeit, die mich bewegte. Da wurden Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg in ihren sozialen Netzwerken betrachtet. Es wurden also ganz reelle Beziehungen zwischen Menschen in ihrem Verlauf über die Zeit untersucht. Ein Ergebnis der Studie war, dass sich Einsamkeit in Netzwerken ausbreiten kann. Das ist ähnlich wie beim Rauchen: Wenn eine Person im Freundeskreis raucht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass andere auch damit anfangen. Das fand ich extrem spannend.
Einsamkeit ist quasi ansteckend?
Das kann man ganz klar so sagen. Wir sind soziale Wesen, nehmen die Reaktionen und Verhaltensweisen anderer wahr und imitieren sie. Das liegt in unserer DNA, das macht uns Menschen aus.
Ist Einsamkeit denn so attraktiv?
Nein. Die Imitation geschieht oft ohne bewusste Interpretation, sie betrifft positive und negative Eigenschaften gleichermaßen. Wenn zum Beispiel Ihr Nachbar einen geliebten Menschen verloren hat, sich jetzt einsam fühlt und nur noch in gebeugter Haltung herumläuft, kann das auf andere wirken, die gar nicht betroffen waren.
Jetzt sind wir schon mitten im Thema. Aber was ist das eigentlich, Einsamkeit?
Einsamkeit ist ein ganz subjektives Gefühl. Niemand kann von außen diagnostizieren, dass ein anderer Mensch einsam ist. Alleinsein muss überhaupt nicht problematisch sein, Einsamkeit dagegen ist eine negative Emotion. Man muss das unbedingt voneinander trennen. Auch Menschen mit vielen Sozialkontakten können sich einsam fühlen.
Als Fachfrau für Einsamkeit sind Sie eine begehrte Gesprächspartnerin. Das Thema hat im Moment Konjunktur.
Ja, seit etwa zwei Jahren ist das Thema extrem auf dem Vormarsch. Ich glaube, das hat vor allem mit der Entstigmatisierung des Themas zu tun. Das ist eine sehr positive Entwicklung, die ich gerne unterstütze.
Hat es auch damit zu tun, dass in unserer stark individualisierten Gesellschaft immer mehr Menschen vereinsamen?
Unsere Daten bestätigen das nicht. Laut Erhebungen liegt der Anteil einsamer Menschen in Deutschland bei etwa 20 Prozent. Das sind Menschen, die angeben, sich mehr als zweimal pro Woche einsam zu fühlen. Diese Zahl ist konstant über die letzten Dekaden. Was dagegen zunimmt, ist die Angst vor Einsamkeit. Fast 70 Prozent der Bürger geben in Umfragen inzwischen an, sich vor Einsamkeit im Alter zu fürchten. Dabei zeigen die Daten, dass ältere Menschen viel seltener unter Einsamkeit leiden als es das Klischee vermuten ließe. Wenn Jüngere sich so sehr vor Einsamkeit im Alter fürchten, sagt das also vor allem etwas darüber aus, was andere Menschen denken, wie alte Menschen leben.
Ist es denn so falsch anzunehmen, dass alte Menschen, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen, vielleicht nur noch wenig Kontakt zur Familie haben und verwitwet sind, sich besonders oft einsam fühlen?
Es kommt stark auf die Persönlichkeit an. So sind neurotische Menschen generell stärker gefährdet, eher extrovertierte weniger. Auch frühe sichere Bindungen spielen eine Rolle und machen Menschen in ihrem weiteren Leben weniger anfällig für Einsamkeitsgefühle. Menschen über 60 leiden seltener an Einsamkeit als jüngere Altersgruppen. Erst bei Menschen im sehr hohen Alter steigt das Einsamkeitsrisiko. Das liegt aber vor allem an gesundheitlichen Einschränkungen und reduzierter Mobilität. Gesundheitsvorsorge ist daher immer auch Einsamkeitsvorsorge. Und auch die Digitalisierung kann gerade älteren Menschen helfen.
Inwiefern?
Studien zeigen, dass Social-Media-Nutzung bei jüngeren Menschen das Einsamkeitsrisiko verstärken kann. Das liegt daran, dass sie nicht mehr lernen, mit Konflikten umzugehen und Langeweile auszuhalten. Ältere können das noch. Sie können die Vorzüge der Digitalisierung gezielt für sich nutzen und Einschränkungen damit kompensieren. Wenn die Enkel weit weg leben, dann lässt sich die Distanz zum Beispiel durch Skype überwinden.
Welche Altersgruppe ist besonders anfällig für Einsamkeit?
Die meisten Menschen, die bei Befragungen angeben, sich oft einsam zu fühlen, sind zwischen 17 und 29 Jahre alt. In dieser Altersgruppe ist auch das Risiko für Depressionen erhöht.
Junge Erwachsene also. Eigentlich doch ein tolles Alter...
Einsamkeit hat auch viel mit Erwartung zu tun. Wir merken in Kommunikation mit einsamen Menschen immer wieder, dass sie oft völlig überzogene Erwartungen haben. Junge Erwachsene beziehen oft die erste eigene Wohnung, viele wechseln auch ihren Wohnort. Da werden dann oft auch Phasen der Einsamkeit durchlebt. Die meisten finden da wieder raus, aber nicht alle.
Welche Unterschiede gibt es zwischen den Geschlechtern?
Interessanterweise belegen Studien, dass sich Frauen in Partnerschaften signifikant häufiger einsam fühlen als Männer. Wenn Partnerschaften enden, kommen Frauen damit aber besser zurecht. Denn sie pflegen auch in Beziehungen weiterhin ein soziales Netzwerk, das sie dann auffangen kann. Männer setzen eher alles auf eine Karte. Wenn die Partnerin stirbt oder sich abwendet, ist nichts mehr da. Zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gibt es leider noch kaum Daten.
Was raten Sie Menschen, die unter Einsamkeit leiden?
Sie müssen bewusst unter Menschen gehen. Auch Sport kann sehr helfen. Das klingt einfacher als es ist, denn viele einsame Menschen sind nicht mehr so geübt im Umgang mit anderen Menschen. Die Überwindung des „inneren Schweinehunds" fällt ihnen besonders schwer.
Kann es für Menschen, die stark unter Einsamkeit leiden, ratsam sein, einen Arzt aufzusuchen?
Einsamkeit ist ein gutes Frühwarnsystem. Wer sich mehrmals pro Woche einsam fühlt, sollte etwas dagegen unternehmen. Einsamkeit kann nämlich bestimmte Krankheiten fördern, darunter auch Demenz. Allein wegen Einsamkeit zum Arzt zu gehen wäre allerdings so, als ob ein Autofahrer die Werkstatt aufsucht, weil sein Tank leer ist.
Dann besser zur Tankstelle...
Genau. Ich habe zum Beispiel mal einen Vortrag bei den Landfrauen gehalten und war ganz begeistert von deren Angeboten. Auch die Kirchen tun einiges. Wichtig ist, keine Veranstaltungen explizit „für Einsame" auszurichten. Denn da kommen die Falschen, nämlich Menschen, die einen Partner suchen. Das ist eine andere Zielgruppe.
In Großbritannien gibt es ein Einsamkeitsministerium. Ist der Kampf gegen Einsamkeit wirklich eine staatliche Aufgabe?
Das Thema Einsamkeit sollte auf jeden Fall auch auf der politischen Ebene mitbedacht werden. In Zeiten steigender Verunsicherung ist es wichtig, dass der Staat darauf achtet, Menschen die Möglichkeit zur sozialen Teilhabe zu gewährleisten. Das betrifft den Wohnungsbau, die Gesundheitsvorsorge, die Infrastruktur und Mobilität. Aber zum Beispiel auch die soziale Absicherung und das Sicherheitsgefühl abends auf der Straße. Einsamkeit ist ein Querschnittsthema. Deshalb bin ich gegen ein eigenes Ministerium mit eigenem Budget. Das wäre wieder so ein Silo-Denken. Besser vernetzt und verbunden denken - das passt zum Thema.