Natura2000: Kartierungsgrenzen wie in den Kolonien
Von Bernhard Knapstein
Eickeloh. Viehwirt Johannes Blanke steht mitten auf seinem Grünland am Eickeloher Fährweg. Die karierte Schiebermütze schützt seine Ohren vor dem winterlichen Wind eher nicht, doch scheint ihm das nicht viel auszumachen. Kaum vier Schritte von ihm entfernt steht Wolfgang Ordon vom Förderverein des Pflege- und Beteiligungsverbands für das Aller-Leine-Tal. Während Blanke seinen Körper mit einem olivgrünen Landblouson wärmt, genügt Ordon ein alter Bundeswehrpullover, schwarz-rot-goldene Fahne auf dem Oberarm inklusive. Blanke und Ordon haben sich mit dem Reporter zum Ortstermin im Aller-Leine-Tal getroffen, wollen anhand von Kartenmaterial und der realen Situation zeigen, dass der Entwurf der Unteren Naturschutzbehörde (UNB) für die Verordnung über das Landschafts- und Naturschutzgebiet Aller-Leinetal Fragen aufwirft.
„Wir stehen hier“, zeigt Blanke auf einer Karte den Standort der Männer auf dem Grünland. Und der geübte Blick zeigt: Blanke steht mit beiden Beinen im vorgesehenen Naturschutzgebiet, Ordon allerdings im Landschaftsschutzgebiet. Mitten durch die flächendeckend gleichartig aussehende Grünfläche ziehen sich unsichtbare Linien, die zeigen sollen, wo extensiv und mit nur wenigen Mahden gewirtschaftet werden darf und welche Teilflächen als besonders schützenswert gewertet worden sind. Der Blick geht weit über die Fläche, am Horizont sind Windräder auszumachen. Das Grünland selbst sieht überall gleich aus. „Die unsichtbaren Linie erinnern an den Grenzverlauf kolonialer Staaten in Afrika“, kommt es Blanke in den Sinn. Eine gerade Linie hier, eine dort, so das Diktat von oben. Das eine gehört eingeschränkt dem Bauern, das andere dem Naturschutz.
Naturkenner Johannes Blanke: „Da ist ein Braunkehlchen“
Doch irgendetwas muss sich die Naturschutzbehörde doch dabei gedacht haben. „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht“, steht Blanke mit zuckenden Schultern auf seinem Land, dass er – ohne Bewirtschaftsaktivität – in Zukunft nicht mehr betreten soll. Ahnungslos ist der junge Mann mit dem immerfreundlichen Gesicht nicht. Dass der Landwirt die Natur und seinen Boden – und auch den seiner Nachbarn – gut kennt, dessen Eigenschaften und die Arten, die hier in der Allerniederung beheimatet sind, zeigt sich nur wenige Momente darauf. „Da ist ein Braunkehlchen“, zeigt er über den Fährweg hinweg auf eine Nachbarschlag, wo sich der seltene Singvogel gerade niederlässt. Die Karte der UNB weist tatsächlich für diese Fläche ein Braunkehlchen aus.
„Wir haben diese Kulturlandschaft geschaffen, haben der Natur den Raum gegeben, den sie braucht und uns mit ihr arrangiert“, sagt Ordon und zeigt seinen Frust darüber, dass die Aller-Leinetaler „dafür nun bestraft“ würden.
Dass die Kartierungen auch andernorts nicht stimmen, belegt Ordons Verein zur Förderungen der Gründung und der Arbeit des Beteiligungs- und Pflegeverbands der Aller-Böhme-Region, der sich aufgrund des langen Namens nur kurz Förderverein Kulturlandschaft nennt. Ordon ist der Vorsitzende. Der Verein sammelt zurzeit fehlerhafte Kartierungen.
So weise die Kartierung der Unteren Naturschutzbehörde für den nordöstlichen Uferstreifen der Aller bei Rethem südlich der Lange Straße (B 209) ein gehölzfreies Biotop aus. Tatsächlich ist der Uferstreifen indessen dicht begrünt. Der Blick von der Allerbrücke aus zeigt: Nach einigen Metern Röhricht stehen rund sechs Meter hohe Weiden hier dicht an dicht und saugen Wasser aus der Aller.
Die Kartierungen bilden das Fundament für die Schutzgebietsausweisung, ein brüchiges Fundament, wie die Beispiele belegen. Doch wie ist es zu den Kartierungen gekommen, wer hat wann und wie das geplante Natur- und Landschaftsschutzgebiet untersucht, dass die Realität so deutlich von den Plänen der Behörde abweichen können? Auf Nachfrage der Böhme-Zeitung erklärt die Kreisverwaltung, das Ausweiseverfahren basiere „auf der sogenannten Basiserfassung, welche im Auftrag des Landes in den Jahren 2002 bis 2004 vorgenommen wurde“. Ergänzend sei eine Aktualisierungskartierung aus dem Jahr 2016 herangezogen worden. Mit anderen Worten: Die Begutachtung eines großen Teils der Flächen ist bis zu 17 Jahre alt.
Aufgrund dieser Kartierungen erklärt die Behörde den Schutzstatus über öffentliche und vor allem auch private Flächen. „Das führt faktisch zur Entwertung meiner Flächen“, sagt Landwirt Blanke. „Ich kann sie weder entwickeln noch zu einem angemessenen Preis verkaufen.“ Doch was für Blanke schlimmer wiegt: „Ich kann mein Vieh nicht mehr von meinem Land allein ernähren, da die frühe Mahd verboten wird, ich also Kraftfutter zukaufen muss.“
Wo Naturschutz andernorts die Natur bedroht
Kraftfutter enthält Soja, das insbesondere in Südamerika angebaut wird. Der World Wide Fund for Nature (WWF) verurteilt die Einfuhr dieser Proteinquelle, da für den Anbau wertvolle Naturräume zerstört würden. „So zum Beispiel die Trockenwälder des Chaco oder die Nebelwälder Argentiniens“, wie es auf der Internetseite des WWF (wwf.de) heißt. Die Umweltschutzorganisation fordert daher „ökologische und artgerechte Tierhaltung“ – also genau das, was Landwirt Blanke seit Jahren aktiv betreibt. Doch ausgerechnet der „harte Naturschutz“, wie Blanke sagt, bildet die Grundlage für die Naturzerstörung in Südamerika oder anderorts, wo weit weniger sensibel mit der Natur umgegangen wird als im Aller-Leine-Tal.
Naturzerstörung im Namen des Naturschutzes? „Vielleicht ist das nicht gewollt, aber zumindest mittelbar der Effekt“, sagt Blanke.
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Anmerkung v. 13.2.2019, 11.30 Uhr:
Ein der Redaktion bekannter anerkannter Vogelkundler hat die Redaktion zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Braunkehlchen als Zugvögel im Februar in der Regel nicht in diesen Breitengraden auszumachen sind, da sie erst im April aus dem Süden eintreffen. Demnach besteht die Möglichkeit, dass der Landwirt das “Braunkehlchen” falsch identifiziert hat, oder der Vogel nicht in den Süden gezogen ist. Tatsächlich sah der Vogel, den auch der Unterzeichner kurz gesehen hat, einem Braunkehlchen zumindest sehr ähnlich. bk