Contra Schuldenbremse
Unser Gastautor Professor Rudolf Hickel lehrte und forschte bis zu seiner Pensionierung Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats bei Attac.
Mit der Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz ist 2011 eine epochale Beschränkung der Finanzierung öffentlicher Haushalte durch den Bund, die Länder und indirekt auch bei den Kommunen durchgesetzt worden. Die „schwäbische Hausfrau“ wurde zur Leitfigur des Staates mit seinen nicht vergleichbaren gesamtwirtschaftlichen Aufgaben. Mit dieser Verwechselung von öffentlichen mit privaten Haushalten wurde die zuvor im Grundgesetz fixierte „goldene Regel“ abgeschafft: Auch gesamtwirtschaftlich produktive Investitionen durften nicht mit Krediten finanziert werden.
Heute lässt sich Bilanz ziehen. Die Schuldenbremse hat bei einer kaum veränderten Steuerpolitik zu massiven Einsparungen bei den Infrastrukturinvestitionen geführt. Eine alarmierende Studie belegt: Über Jahre hinweg hat sich ein öffentlicher Investitionsbedarf für Reparatur, Modernisierung und Erweiterung auf über 450 Milliarden Euro aufgestaut. Die Schuldenbremse entpuppt sich als Zukunftsbremse. Sie muss auf den Prüfstand.
„Entwicklungsbremse per Verschuldungsverbot"
Beim Vergleich der Wahlprogramme zeigt sich ein ärgerlicher Widerspruch. Parteien wie CDU, Grüne und SPD fordern zu Recht massive Investitionsprogramme nicht nur gegen die Klimakrise. Wie das bei dem prinzipiellen Neuverschuldungsverbot gehen soll, bleibt im Dunkel. Die Frage nach der Zukunft dieser Entwicklungsbremse per Verschuldungsverbot muss auf die Tagesordnung. Zumindest sollte die Schuldenbremse orientiert an der „goldenen Regel“ reformiert werden. Die dazu wichtigste Reformmaßnahme: Für Infrastrukturprogramme werden öffentliche Investitionsgesellschaften und Sondervermögen mit dem Zugang zu den Finanzmärkten genutzt. In einigen Ländern lässt die Verfassung dies zu. Auch der Bund arbeitet bereits jenseits der Regelungen für den Normalhaushalt mit solchen Sonderfonds.
Es wird auch über die Schuldenfinanzierung gegen die Corona-Krise zu reden sein. Erst einmal durfte laut Verfassung die Schuldenbremse ausgesetzt werden. Die massiven Steuerausfälle und die Rettungsprogramme für die durch die Lockdowns abgestürzte Wirt- schaft zusammen mit den Ausgaben für das Gesundheitssystem durch öffentliche Krediten zu finanzieren, war alternativlos. Dadurch ist bis 2022 allein beim Bund die Neuverschuldung auf 470 Milliarden Euro gestiegen. Das Grundgesetz schreibt die Rückzahlung der Corona-Schulden „in einem angemessenen Zeitraum“ vor. Deshalb plant die Bundesregierung, spätestens ab 2026 bis 2046 pro Jahr über 20 Milliarden Euro zu tilgen. Damit drohen massive Ausgabenkürzungen. Auch deshalb wird als erster Schritt gefordert, die Staatsschulden zeitlich zu strecken. Da die Schulden bei einer wieder wirtschaftlich stabilen Entwicklung problemlos finanziert werden können, gibt es keinen Grund zu einer schnellen Tilgung.
Die Lehre aus den bedrohlich gebremsten öffentlichen Investitionen aber auch aus der Corona- Krise lautet: Öffentliche Kredite sind dann vernünftig, wenn diese antizyklisch und mittelfristig nach der „goldenen Regel“ für staatliche Investitionsprojekte eingesetzt werden. Deshalb ist Aufklärungsarbeit gegenüber ideologischen Beschwörungen wichtig: Die staatlich finanzierte Investitionspolitik treibt nicht die Inflation an und führt nicht wegen des Anlage suchenden Geldvermögens zum Zinsanstieg. Schließlich finden die Staatstitel trotz Minusrenditen wegen des Vertrauens in die Anlage reißenden Absatz auf den Finanzmärkten. Künftige Generationen werden für die heute veranlassten Infrastrukturinvestitionen für bessere Lebens- und Produktionsbedingungen danken. Die gesamtwirtschaftlich blinde schwarze Null sollte durch die grüne Null als Symbol für eine nachhaltige Entwicklung abgelöst werden.