Pro Pflichtdienst
Unser Gastautor Richard David Precht ist Philosoph. Der Beitrag entstammt seinem Buch Von der Pflicht, erschienen im März 2021 im Verlag Goldmann.
Um die innere Haltung, den Bürger- und Gemeinsinn zu stärken, habe ich vor einigen Jahren das erste Mal einen Doppelvorschlag gemacht. Irritiert darüber, dass 2011 die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt wurde, ohne dabei an eine sinnvolle Alternative zu denken, habe ich angeregt, anstelle der ausgesetzten Wehrpflicht zwei soziale Pflichtjahre für alle Bürger einzuführen: ein soziales Jahr für alle jungen Menschen nach dem Schulabgang. Und ein zweites soziales Pflichtjahr für alle Menschen im Renteneintrittsalter.
Um zu verstehen, was eine Gesellschaftspflicht mit zwei Pflichtjahren in Deutschland bedeuten könnte, lohnt sich ein Blick auf die Zahlen. Etwa 800.000 junge Menschen, von denen nur wenige aus gesundheitlichen Gründen freigestellt würden, verlassen jedes Jahr die Schule. Gymnasiasten, die im Regelfall mindestens achtzehn Jahre alt sind, könnten ihren Dienst sofort antreten, die anderen nach der Ausbildung oder Lehre. Die Zustimmung in der deutschen Bevölkerung für ein solches soziales Pflichtjahr, das von der CDU auch immer mal wieder ins Spiel gebracht wurde, ist bekanntermaßen hoch. Den Kosten des Staates, die die Fachzeitschrift für Freiwilligendienste, Voluntaris, für das Jahr 2020 auf 13,4 Milliarden Euro schätzt, stünde ein sozialer Zugewinn von unschätzbarem Wert auf beiden Seiten gegenüber: den Helfenden und denen, denen geholfen wird, ob in der Altenpflege oder im Krankenhaus, beim Naturschutz oder den Sozialdiensten.
Neuland ist dagegen die Idee des zweiten Pflichtjahrs. Die Zahl derjenigen, die 2021 in Rente gehen werden oder ihre Pension beziehen, ist noch etwas größer als jene der Schulabgänger. Rechnet man aus dieser Zahl einmal diejenigen Menschen heraus, denen ein Pflichtjahr aus gesundheitlichen oder psychischen Gründen nicht zugemutet werden sollte, so kommt man auf eine Zahl von noch immer mehr als eine halbe Million. Was könnte man mit dieser Energie und diesem versammelten Lebenswissen für die Gesellschaft leisten?
Erfolg wäre vermutlich gigantisch
Dazu ein Fallbeispiel unter vielen möglichen: In Deutschland verlassen jedes Jahr etwa 50.000 Schüler die Schule ohne irgendeinen Abschluss. Würde man diese Schüler zu einem frühen Zeitpunkt, im Grundschulalter, intensiv fördern, betreuen und coachen, wäre in vielen Fällen ein späterer Schulabschluss möglich – und die Hartz-IV-Karriere wäre aufzuhalten. Gebraucht dafür würden Zehntausende Coaches oder Nachhilfelehrer in Grundschulen mit der Bereitschaft zum persönlichen Engagement. Kommunen und Bundesländer weisen stets darauf hin, eine solche Menge an hauptberuflichen Coaches nicht finanzieren zu können. Würde man nur jeden dreißigsten (!) der jungen und älteren Menschen im Gesellschaftsjahr nach entsprechendem Training als Coach in die Schule schicken, damit er benachteiligten Kindern und Jugendlichen mit Rat und Tat unter die Arme greift, so wären dies bereits ausreichend viele Coaches! Der Erfolg wäre vermutlich gigantisch. Eine solche Arbeit gibt Schülern eine Chance und Helfenden eine Bestätigung. Und sie entlastet überdies gewaltig die Sozialkassen.
Dieser Vorschlag ist nur einer von vielen möglichen. Ungezählte andere Tätigkeiten (nach Beratung und bei freier Auswahl) sind vorstellbar. Soziale Pflichtjahre dienen dem sozialen Frieden, der Toleranz, der Sinnstiftung, der Entlastung bei Sozialausgaben und dem Verständnis der Generationen füreinander. Mit anderen Worten: Sie wären ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Bürgerkultur, einem neuen Gesellschaftsvertrag!