Wo Menschen weit entfernt von Kliniken „gefährdet“ leben
Soltau. Der Dieselmotor läuft ruhig und rund, der Tacho zeigt 100 Stundenkilometer an, der Tempomat der Mercedes-E-Klasse ist eingeschaltet, Verkehr ist an diesem trockenen frühen Nachmittag zwischen Munster und Uelzen kaum auszumachen. Der Navigator zeigt den Weg zur Notaufnahme des Helios-Klinikums im Uelzener Hagenskamp an. Dieses Klinikum ist aus der Perspektive der Munsteraner das nächstgelegene Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung. Das AKH Celle und auch das Städtische Krankenhaus in Lüneburg liegen mit 49 Minuten beziehungsweise mit 44 Minuten Fahrtzeit laut Google-Map noch weiter entfernt. Der Fahrer will nicht in die Klinik, er prüft nur die für den Weg in Anspruch genommene Zeit, so wie er es in diesen Tagen für alle Kommunen und einige Ortsteile im nördlichen Heidekreis tun wird – eine Recherche der Böhme-Zeitung über die Fahrtzeit der Heidjer in die nächstgelegene Klinik.
Länger als 30 Minuten in die nächste vollwertige Klinik darf es nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) nicht dauern. Statistisch betrachtet ist es im offiziellen Sprachgebrauch allerdings auch unwahrscheinlich, dass es ausgerechnet im Heidekreis länger dauert, zumindest wenn man den Angaben des GBA Glauben schenken darf. „Derzeit erreichen 99 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ein Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung innerhalb von 30 Fahrzeitminuten“, erklärt GBA-Sprecherin Gudrun Köster schriftlich gegenüber der BZ. Bis zu 30 Minuten, das ist die Grenze, die der vom Bundestag gesetzlich beauftragte GBA als Grenzwert „für die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung“ festgelegt hat. Die Erreichbarkeitsstandards gelten bundesweit „als oberste Grenze für den zumutbaren Reiseaufwand“, so Köster.
Einer weiteren Bedingung bedarf es allerdings schon, um eine etwaig zu lange Fahrtzeit als bedeutsam einzustufen. Es müssen nach den Richtlinien des GBA nämlich wenigstens 5000 Menschen betroffen sein, um zu dem abgehängten ein Prozent der deutschen Bevölkerung zu gehören. Ist das der Fall, so wird dieser Siedlungsbereich als gefährdet eingestuft. Ob und für welche Siedlungsbereiche das der Fall ist, das soll die BZ-Untersuchung belegen.
Forst- und landwirtschaftlicher Verkehr gehört zum Alltag
In einer Waldregion setzt der Fahrer seinen Fuß leicht auf die Bremse, ein forstwirtschaftes Nutzfahrzeug kommt nur langsam auf der B 71 voran. In diesem Moment ist an ein Überholen nicht zu denken, denn eine kleinere Autokolonne nähert sich im Gegenverkehr. Als sie vorbeigezogen ist, behindert zudem eine leichte Kuppe die Sicht, das Durchstarten für den Überholvorgang muss noch ein paar Sekunden länger warten. Doch kurze Zeit später verschwindet auch das Forstfahrzeug im Rückspiegel des Testfahrers. Ein ganz alltäglicher Vorgang im ländlichen Verkehr, besonders ist allenfalls das generell geringe Verkehrsaufkommen an diesem Werktag. In Uelzen selbst muss der Fahrer durch verkehrsberuhigte Zonen, hinzu kommen ein paar Kreuzungen an denen Rechts vor Links gilt. Schneller als 30 km/h geht nicht. Am Ende der Fahrt zeigt die Stoppuhr 34 Minuten und 42 Sekunden an. Der Fahrer trägt in seine Liste 35 Minuten ein, es wird aufgerundet. 35 Minuten vom Stadtkern der Örtzestadt Munster bis zum Helios-Klinikum bei zügiger Fahrweise – aber alle Verkehrsregeln wurden beachtet. Auf der Rückfahrt werden es nur 32 Minuten sein, obwohl Google-Map für diese Route 38 Minuten berechnet hat. Nur bei einem Überholvorgang hat der Fahrer für einen Moment die 100 km/h überschritten, dafür aber eine lange Kolonnenbildung vermieden. Welche Auswirkung mochte dieses eine Überholen für die Gesamtdauer der Fahrt gehabt haben?
Aus Sicht der Bundesregierung spielen diese Unwägbarkeiten im Straßenverkehrs allerdings keine Rolle, denn erstens kommt es auf die Durchschnittszeit an und zweitens liegt Munster auch ohne Stau in jedem Fall in einem Gebiet, von dem aus die dort lebenden rund 15 150 Menschen länger als 30 Minuten zum nächstgelegenen Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung brauchen – zumindest seit das Heidekreis-Klinikum seinen Standort Soltau aus der Vollversorgung abgemeldet hat. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte man im Regelfall binnen rund 25 bis 27 Minuten aus der Innenstadt Munsters die Notaufnahme des Soltauer HKK erreichen. Das geht zwar auch heute noch, doch wer hier ankommt, muss im Zweifel nach Walsrode verlegt werden, wo die Vollversorgung zu der Tages- und Nachtzeit gesichert ist. Allein die Ortschaft Oerrel liegt im grünen Bereich, in der 99-Prozent-Zone, von wo aus man in bis zu 30 Minuten ein Krankenhaus erreichen kann, in 26 Minuten, um es genau zu sagen.
Für die mehr als 4350 Wietzendorfer ist der Weg noch weiter. Wer hier lebt, braucht zum HKK Walsrode laut Google-Map 36 Minuten. Das Navigationsgerät des Testfahrers war mit 34 Minuten etwas optimistischer. Der Test bot dann allerdings eine 39-Minuten-Realität. Die kritischen Zonen sind auf dieser Strecke die noch über Jahre dauernden Baustellen auf der Autobahn 7 und vor allem die Walsroder Innenstadt. Die dortige Verkehrsführung beziehungsweise die konkrete Lage des HKK in Walsrode kosteten an diesem Nachmittag runde fünf Minuten.
Auf der A7 mit 160 km/h Richtung Krankenhaus
Von Bispingen aus ist das nächstgelegene Krankenhaus jenes in Winsen/Luhe. 32 Minuten dauert die Fahrt vom Ortskern der rund 6330-Einwohner-Gemeinde laut Google-Map, 31 Minuten laut Navi. Mit 42 Kilometern ist dies zwar die längste Strecke, sie verläuft aber zwischen Bispingen und der Abfahrt Pattensen auf der A 7. Der Testfahrer schafft die Strecke mit einem Mittelwert von 31 Minuten, davon einmal in glatt 30 Minuten. Landwirtschaftlicher Verkehr oder Stau auf der A7 haben die Fahrt nicht blockiert, wegen der leicht diesigen Sicht überschreitet der Fahrer auf der Autobahn nicht die Maximalgeschwindigkeit von 160 km/h. Mit 31 Minuten liegt auch Bispingen in der gefährdeten Zone – knapp, aber dennoch außerhalb.
Von der Kernstadt Schneverdingen aus ist das Agaplesion-Klinikum laut Google-Map binnen 28 Minuten erreichbar, Navi und zwei Testfahrten ergeben eine Reisedauer von 26 Minuten. Und selbst aus der südöstlich gelegenen Max-Oertz-Straße ist – bei offener Bahnschranke – die Rotenburger Notaufnahme bei zulässiger Fahrweise in 30 Minuten erreichbar. Die westlich gelegenen Ortsteile sind entsprechend schneller in Rotenburg. Für den Ortsteil Heber indessen gilt, das Krankenhaus in Buchholz/Nordheide ist schneller erreichbar – allerdings in 31 Minuten laut Google-Map. Der Navigator gibt sogar 33 Minuten vor, der Testfahrer hat die Strecke in 32 Minuten bewältigt. Damit sind auch die Heberaner von der gesicherten Daseinsvorsorge abgehängt. Am schnellsten sind mit 24 Minuten nach Google-Map die Neuenkirchener in einem Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung. Und auch das Navigationsgerät legt nur eine Minute für den Weg zum Agaplesion-Krankenhaus in Rotenburg drauf.
Abgehängt von der klinischen Versorgung ist nach Aussagen des Soltauer Bürgermeisters Helge Röbbert auch die Böhmestadt. So ganz so eindeutig fiel das Ergebnis allerdings nicht aus. Für Soltau mussten mehrere Testfahrten über Riepe und Bomlitz zum HKK Walsrode unternommen werden, darunter eine Fahrt im Dunkeln. In keinem Fall waren die stündlich geschlossenen Bahnschranken heruntergelassen. Freie Fahrt also. Für die Wohnbereiche südlich des südlichen Soltauer Bahndamms gilt: Das HKK Walsrode ist von der Schranke aus binnen 30 Minuten erreichbar. Für zwei Drittel der Kernstadt sowie alle nördlich und östlich gelegenen Ortsteile allerdings gilt: Es dauert länger. Der Mittelwert der Testfahrten ab der Rathauskreuzung beträgt 31 Minuten. Das war auch das Ergebnis von Google-Map. Nur das Navi im PKW zeigte 32 Minuten an. Während einer einzigen Testfahrt konnte der Schwellenwert mit 28 Minuten bei absolut freier Fahrt unterschritten werden. Soltauer wissen allerdings: Die Schranken und die Ampelschaltung am Soltauer Bahnhof (Walsroder Straße) sowie die Schranke an der Celler Straße bilden im Ernstfall das größte Hindernis.
Dass solche Umstände von Belang sind, betont GBA-Sprecherin Köster mit Blick auf die vom GBA einbezogene Verkehrsrealität explizit. „Die zugrunde liegenden Algorithmen dürfen nicht nur auf Distanzen abstellen, sondern auch die tatsächlichen topografischen Bedingungen, die Verkehrsinfrastruktur und die durchschnittliche Verkehrslage berücksichtigen.“ Die Kernstadt und die großen Ortsteile Wolterdingen, Ahlften und selbst das autobahnnahe Harber sind damit abgehängt und nach GBA-Kriterien versorgungsgefährdet. Ein Blick auf die Karte des Kreisgebietes zeigt, dass von der Beendigung der Grund- und Regelversorgung des HKK am Standort Soltau rund 48 600 Einwohner unmittelbar betroffen, nach dem offiziellen Sprachgebrauch des GBA „gefährdet“ sind. Berücksichtigt man dann noch den tourismusbedingten Höherbedarf – den Heide-Park im Norden der Böhmestadt und auch Center-Parks in Bispingen liegen zum Beispiel ebenfalls in der gefährdeten Zone – erhöht sich der Betroffenenkreis entsprechend.
Immerhin, laut Tourismus-Marketing Niedersachsen kommen in der Lüneburger Heide 6077 Übernachtungen auf 1000 Einwohner – die Tagesgäste sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Die BZ-Recherche belegt damit, was bisher viele vermutet haben, was aber noch nicht in dieser Klarheit belegt und ausgesprochen worden ist: Die Entscheider in Geschäftsführung und Aufsichtsrat des Heidekreis-Klinikums sowie die politischen Kräfte im Kreistag haben mit der Umstrukturierung den Altkreis Soltau – abzüglich Schneverdingen und Neuenkirchen – aus der flächendeckenden Gesundheitsversorgung faktisch abgemeldet.
So beachtlich wirtschaftliche Herausforderungen und die notwendige Reduzierung von Zuschüssen durch den Heidekreis als Träger des Klinikums sind, die letztlich zu dieser Entscheidung geführt haben – der Gesetzgeber strebt die flächendeckende Grund- und Regelversorgung an, nicht deren Rückbau. Sicherzustellen seien insbesondere Leistungen der Fachabteilungen Innere Medizin und Chirurgie. Er gewährt dafür sogar für finanziell beeinträchtigte Kliniken der Grund- und Regelversorgung, zu denen das HKK Soltau gehört hat, sogenannte Sicherungszuschläge. „Sie werden gezahlt, wenn ein Krankenhaus diese Leistungen aufgrund des geringen Versorgungsbedarfs nicht aus den Mitteln des Entgeltsystems für Krankenhäuser kostendeckend finanzieren kann“, so GBA-Sprecherin Köster. bk