Brisante Analyse zur klinischen Versorgung
Von Bernhard Knapstein
Soltau. Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende des Heidekreis-Klinikums (HKK), Sebastian Zinke, hat im Gespräch mit der BZ für Soltau als Ziel definiert, die Notaufnahme auch wieder mit einer chirurgischen Versorgung zu unterlegen. Eine volle Fachabteilung Chirurgie mit allen dazugehörigen Elementen und dem entsprechenden Personalstamm werde man aber vermutlich nicht hinbekommen. Man sei mit dem Sozialministerium im Gespräch. Doch selbst wenn Soltau eine chirurgische Versorgung bekommt – reicht das? Fest steht, die Gesellschaft altert, die Morbidität, also die Anfälligkeit für Erkrankungen, steigt mit dieser Entwicklung. Hierauf müssen sich Kliniken einstellen, die auf weite Sicht planen. Dass hierzu sogar eine planerische Pflicht besteht, hat auch das Bundesverfassungsgericht schon entschieden. Eine „bedarfsgerechte und leistungsfähige“ Krankenhauspflege sei „unverzichtbarer Teil der Gesundheitsversorgung“ und als solche ein „besonders wichtiges Gemeingut“, erklärt Karlsruhe beispielsweise in einer Entscheidungsbegründung vom 12. Juni 1990.
Was sind die nun vorgegebenen Standards für die Akutversorgung, die ein Grund- und Regelversorger – der im Nordkreis nach den Maßstäben des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) fehlt – üblicherweise anbietet? Eine Gruppe von Medizinern verschiedener deutscher Institute für Notfall- und Intensivmedizin hat als sogenannte „Konsensusgruppe bereits 2007 ein „Eckpunktepapier zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung“ aufgestellt, das 2016 noch einmal ergänzt worden ist. Das in der Notfallmedizin allgemein anerkannte Eckpunktepapier, das der BZ vorliegt, weist auf insgesamt sechs Akutnotfälle hin, die in der Strukturplanung der Kliniken berücksichtigt werden sollen: Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall, Schwerverletzte/Polytrauma, Hebungsinfarkt, plötzlicher Kreislaufstillstand und Sepsis, also Blutvergiftung.
Bei diesen konkreten Notfällen mit potenzieller Lebensgefahr müssen die über eine Notrufzentrale gerufenen Rettungskräfte die Entscheidung treffen, wohin sie den Patienten transportieren. Grundsätzlich müsste das HKK diese Fälle sowohl in Walsrode als auch in Soltau behandeln können. Zumindest schreibt das niedersächsische Krankenhausgesetz für Kliniken, die an der Nofallversorgung teilnehmen, vor, dass sie dann auch „zur Notfallversorgung von lebensbedrohlich Verletzten und Erkrankten in der Lage sind“.
Analyse zeigt Schwachstellen in der Akutversorgung auf
Nach der Veröffentlichung der BZ zur Entfernung der nördlichen Kreiskommunen zur nächstgelegenen vollwertigen Notaufnahme hat die Kreisverwaltung die Situation offensichtlich prüfen lassen. Der BZ liegt eine interne und zugleich brisante Analyse vor, die Landrat Manfred Ostermann den Mitgliedern der Gesellschafterversammlung des Klinikträgers hat zukommen lassen. In dieser Analyse bestätigt der Ärztliche Leiter Rettungsdienst (ÄLRD), Dr. Benjamin Dorge, die Gefährdungssituation nicht nur, er geht darüber sogar noch hinaus und zeigt in seiner Analyse die weiteren Schwachstellen in der Akutversorgung auf. Eine Verbesserung der Situation ist offensichtlich tatsächlich für die Notfallversorgung bei Hebungsinfarkten zu registrieren. Das 2012 eingeführte Herzkatheterlabor ist nach personalbedingten Ausfallzeiten seit spätestens September 2017 im 24-Stunden-Dienst im Einsatz. Die aufgewertete Kardiologie ist somit ein Zugewinn für den Standort.
Schon kritischer sieht es offensichtlich bei der Schlaganfallversorgung aus. Laut der Analyse Dorges ist das Kreisklinikum bei der Schlaganfallversorgung nicht autark. Es fehle die eigene Neurologie, die Diagnose mittels Computertomografie werde via Telemedizin entweder am AKH Celle oder am Klinikum Braunschweig realisiert. Bei komplexeren Fällen stünden dadurch Verlegungstransporte an. Den Behandlungserfolg nennt der ÄLRD in seiner Analyse „suboptimal“. Noch kritischer dürfte die Situation in den Akutbereichen für schweres Schädel-Hirn-Trauma und Schwerverletzte/Polytrauma sein. Nach definierten Kriterien sollen Patienten nach der Erstversorgung eigentlich binnen 30 Minuten in einem für das Verletzungsmuster geeigneten Traumazentrum eintreffen. Für die Koordinierung des Patientenflusses gibt es sogenannte Traumanetzwerke. Zu denen gehöre aber, so Dorge in seiner Analyse, weder Soltau noch Walsrode.
Geringere Anforderungen an lokale Traumazentren
Als Traumazentrum wird nur zertifiziert, wer verschiedene Kriterien erfüllt. Die geringsten Kriterien erfüllt ein lokales Traumazentrum. Als Klinik für Unfallchirurgie oder mit entsprechender Fachkompetenz hat es eine 24-stündige Aufnahmebereitschaft und Operationsbereitschaft für Schwerverletzte sowie schnell (20 bis 30 Minuten) abrufbare Fachärzte aus den Bereichen Orthopädie/Unfallchirurgie, Viszeralchirurgie oder Allgemeinchirurgie, Anästhesiologie, ein Basisteam im sogenannten Schockraum sowie ein abrufbares erweitertes Schockraumteam – alles in allem acht Ärzte und sechs Fachkräfte für Pflege und Radiologie, so das Weißbuch Schwerverletztenversorgung der für die Zertifizierung von Traumazentren zuständigen Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU). Für den 24-Stunden-Dienst muss dieser Personalstamm wohl aber noch zusätzlich ausgebaut werden. Hinzukommen räumliche Kapazitäten in der Notaufnahme, im OP und auf der Intensivstation. Wesentlich mehr Ressourcen und Kompetenzen müssen regionale Traumazentren aufweisen, an der Spitze rangieren die hochleistungsfähigen überregionalen Traumazentren.
So gehört das Agaplesion-Diakonieklinikum in Rotenburg als überregionales Traumazentrum zum Bremer Netzwerk, Buchholz/Nordheide zum Hamburger Netzwerk von Traumazentren. Eine Traumazentrum-Weißfläche in ganz Niedersachsen bildet neben Lüchow-Dannenberg ausgerechnet der unfallgefährdete Streifen der A7 zwischen Bispingen im Norden und dem Autobahndreieck Walsrode (siehe Bild), das HKK wäre damit prädestiniert, die Lücke zumindest als lokales Traumazentrum zu schließen und sich den angrenzenden Netzwerken anzuschließen – entweder in Soltau oder in Walsrode. Neben der „gefährdeten“ Grund- und Regelversorgung hat die Klinikpolitik insoweit zusätzliche Herausforderungen für die Akutnotfallversorgung.
Infobox: 649 Kliniken sind zertifiziert
Das Traumazentrum-Netzwerk der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie hat im deutschsprachigen Raum sowie in den Benelux-Ländern in 54 überregionalen Netzwerken 649 Kliniken mit zertifiziertem Traumazentrum zusammengefasst. Niedersachsen wird hierdurch fast vollständig in der optimierten Schwerverletzenversorgung abgedeckt. Der Heidekreis wird allerdings nur an den Kreisgrenzen von den Netzwerken erfasst, die einen 30-Kilometer-Radius abdecken. Die nächstgelegenen und leistungsfähigen überregionalen Traumazentren sind das Agaplesion-Diakonieklinikum Rotenburg und das AKH Celle. Walsrode und Soltau sind noch nicht einmal als lokale Trauma-zentren zertifiziert. bk