Kein Platz für den „Chef“

„Gehe nicht zu deinem Fürsten, wenn du nicht gerufen wirst.“ Dieses alte Sprichwort bekam ich vor rund 15 Jahren von einem erfahrenen Kollegen zu hören. Damals hatte ich gerade in der Sportredaktion der Böhme-Zeitung angefangen und wollte mit einer Idee zur Berichterstattung beim Verleger anklopfen. Was der gut gemeinte Rat, bedeutete, war natürlich klar: Meide den Kontakt zum Chef, wenn du dir keine Probleme einhandeln willst. „Zimmer 1“ hieß das Chefbüro, halb ironisch, halb ehrfurchtsvoll.

Heute wüsste ich nicht einmal, wo ich anklopfen sollte, wenn ich unserem „Chef“ ein Idee vorschlagen möchte. Er hat kein Büro mehr. Genauso wenig wie die Redaktion, die Grafik, die Kollegen aus dem Werbemarkt oder das Growth-Hacking-Team (was das ist, erläutere ich mal in einem späteren Beitrag). Die Konsequenz aus der Flexibilität, dass jeder dort arbeiten kann, wo es gerade am effektivsten und bequemsten – kurz: am besten – ist, bedeutet im Gegenzug, dass der feste Arbeitsplatz („mein Schreibtisch, mein Bildschirm, mein Rollwagen“) Vergangenheit ist. Wer in eines unserer Büros in Soltau oder Bispingen kommt, sucht sich einen Platz der gerade frei ist, und legt los.

Unser Auszug aus der Harburger Straße war vor allem ein Aufbruch zu einem neuen Arbeiten. Wobei das letztlich nur die räumliche Konsequenz eines anderen Aufbruchs war, den wir schon vor mehr als zehn Jahren getan haben. Da begann die Transformation des Verlags zu einem agilen Unternehmen. Das bedeutet (in aller Kürze): ein Abflachung der Hierarchien, ein Aufbrechen der Abteilungen, das Entwickeln, Formulieren und Verfolgen von Strategien und Zielen sowie das ständige Reflektieren der eigenen Arbeit. Was war gut und warum? Was hat nicht geklappt und wieso nicht? Und vor allem: Wie können wir es dann anders machen? In der Redaktion treffen wir uns alle vier Wochen zu einer sogenannten Retrospektive (Retro), in der wir ganz bewusst auf die positiven und negativen Geschehnisse seit dem letzten Treffen schauen. Ein Nebenprodukt ist eine stark verbesserte Fehlerkultur. Wer arbeitet, macht Fehler. Erscheinen diese in der Zeitung, werden sie öffentlich und sind natürlich besonders ärgerlich. Aber die Frage lautet nun nicht mehr: Wer hat das verbockt? Sondern: Was können wir tun, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.

Das agile Arbeiten befähigt uns zu Transformationen. Wir arbeiten nicht mehr wie vor fünf Jahren und werden in fünf Jahren nicht mehr so arbeiten wie heute. Dieser ständige Wandel sorgt gelegentlich auch für Chaos und Irrwege, er sorgt manchmal auch für eine gewisse Überforderung, irgendwann hätte man es gerne vielleicht auch mal etwas ruhiger. Aber diese Transformation ist kein Selbstzweck, sie ist eine Reaktion auf einen hochdynamischen Markt und daher absolut unabdingbar.

Das agile Arbeiten führt aber auch – zumindest meiner Wahrnehmung nach – zu einem deutlich angenehmeren Arbeitsklima. Alle Begegnungen finden auf Augenhöhe statt, jeder ist aufgefordert, seine Meinung zu sagen, Bedenken zu teilen und Vorschläge zu machen.

Wenn ich meiner Tochter beim Rundgang durch die Büros die Frage „Und wo sitzt euer Chef?“ nicht beantworten kann, dann liegt das nicht allein an dem fehlenden Büro. Sondern auch daran, dass es den klassischen „Chef“ so gar nicht mehr gibt – zumindest nicht im Sinne des Fürsten, dem man besser aus dem Weg geht.

Stefan Grönefeld