Was kommt in die Zeitung?

„Das interessiert den Leser“ ist ein Satz, den ich ihn in den vergangenen Jahrzehnten ungezählte Male in einer Redaktionskonferenz gehört habe. Empirisch belegt wurde er selten bis nie (auch wenn das inzwischen zumindest bei digital ausgespielten Inhalten leicht möglich ist). Ganz abgesehen davon, dass es „den“ Leser oder „die“ Leserin gar nicht gibt, bleibt die Frage nach dem tatsächlichen oder vermeintlichen Interesse zum einem Großteil Spekulation. Natürlich haben wir Redakteure Erfahrung und stehen gerade als Lokaljournalisten im Austausch mit den Lesern (zumindest mit einem Teil von ihnen). Zugleich kann Feedback aber auch täuschen, zumal, wenn es aus speziellen Teilen der Leserschaft stammt. Zum Beispiel, weil Veranstalter und Funktionsträger natürlich auch Leser sind. Und wenn diese sich dann mit einem Bericht sehr zufrieden zeigen, muss das nicht repräsentativ für die Mehrheit der Leser sein.

Wirklich interessant ist ein Thema dann, wenn es konkret auf die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser zugeschnitten ist. Die britische BBC hat 2017 das sogenannte User Needs Model entwickelt. Es formuliert sechs Leserbedürfnisse:

  • Divert me (unterhaltsame Formate)
  • Update me (klassische Nachrichtenformate)
  • Help me (Terminankündigungen und Ratschläge)
  • Educate me (Hintergrund- und Erklärstücke)
  • Give me Perspective (Analysen und Kommentare)
  • Inspire me (ermutigende und lösungsorientierte Geschichten)

Analysen haben ergeben, dass vor allem ermutigende und lösungsorientierte Geschichten (Inspire me) sowie Analysen und Kommentare (Give me Perspective) das höchste Leserinteresse erzielen. Diese Geschichten sind für Redaktionen oft mit einem höheren Aufwand verbunden als ein Stück im klassischen Nachrichtenformat (weswegen diese quantitativ nach wie vor in den meisten Medien dominieren). Aber es scheint uns sinnvoller, viel Arbeit in einen Beitrag zu investieren, der viele Leser interessiert, als vergleichsweise wenig in ein Format, das letztlich von den meisten überblättert wird. Deswegen beziehen wir die Frage nach den User Needs aktiv in die Themenplanung mit ein und fragen uns systematisch, wo bei einer Geschichte der konstruktive Ansatz stecken könnte, wann eine kommentierende Analyse sinnvoll ist, wann es angebracht ist, die Hintergründe etwas ausführlicher zu erläutern. Und natürlich bleiben auch klassische Nachrichtenformate unverzichtbar. Wenn der südliche Heidekreis im Hochwasser zu versinken droht, ist die Relevanz des Themas so groß, dass das öffentliche Interesse außer Frage steht. Nur dürfen wir nach dem „Update me“ nicht aufhören.

Damit wir uns bei der Themenplanung nicht auf unser Bauchgefühl allein verlassen müssen und eventuell sogar Gefahr laufen, bei der Gewichtung von Beiträgen beliebig zu werden, haben wir uns eine Markierung gegeben, an der wir unsere Entscheidungen im Zweifelsfall messen: Wir geben Orientierung. Diese Markierung formuliert den Anspruch, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in unserer demokratischen Gesellschaft die Informationen zur Verfügung zu stellen, welche nötig sind, um in einer vielschichtigen und komplexen Gesellschaft fundierte Entscheidungen treffen zu können. Hinzu kommt unsere journalistische Aufgabe schlechthin: die Kontrolle von Politik und Verwaltung, die ja von uns allen auf Zeit mit Macht und Verantwortung ausgestattet worden sind.

Diese grundsätzliche und eher abstrakte Ansprüche werden durch mehrere Leitsätze konkretisiert:

  • Wir setzen die Themen und bleiben an ihnen dran, bis wir überzeugt sind, dass sie beendet sind.
  • Wir setzen Impulse in der öffentlichen Diskussion.
  • Wir fordern die Verantwortlichen bei Missständen zum Handeln auf.
  • Wir analysieren, ordnen ein und kommentieren, schreiben aber nicht unsere persönliche Meinung (weil es vermessen wäre, sie für relevant zu halten).
  • Wir machen die Ziele der handelnden Personen und Parteien transparent.
  • Wir schreiben für die Leser und nicht für die Handelnden.
  • Wir sind keine Chronisten (zumindest nicht in dem Sinn, dass unsere Aufgabe erledigt ist, wenn wir von dem Ablauf eines Ereignisses berichten).
  • Wir lassen alle Seiten gleichberechtigt zu Wort kommen.
  • Wir setzen voraus, dass jeder über den wir schreiben, zu jedem Zeitpunkt nach bestem Wissen gehandelt hat (zumindest bis zum Beweis des Gegenteils).

Wir wissen, dass unsere Markierungen und Leitsätze sehr anspruchsvoll und fordernd sind. Und noch schlimmer: Wir wissen, dass wir in der konkreten Umsetzung immer wieder hinter ihrem Ideal zurückbleiben. Dennoch halten wir sie nicht nur für richtig und wichtig, sondern letztlich für unverzichtbar. Wir müssen uns selbst immer wieder dem Anspruch stellen, Orientierung zu geben. Deswegen sind wir alle letztlich Journalisten geworden. Und nicht, damit die Zeitung voll wird.

Stefan Grönefeld