„Wir sind löwenstark“
Das Herzlöwenprogramm soll Kinder in Konfliktsituationen stark machen.
„Du bist doch ein Baby, du bist blöd!“ – „Nein, du bist blöd“, nicht darauf einzugehen, wenn man blöd angemacht wird, kann ganz schön schwer sein. Das merken auch die Vorschulkinder der Integrativen Kindertagesstätte Wintermoor schnell. An diesem Vormittag ist Yvonne Seidler bei ihnen zu Gast. Seidler ist Selbstbehauptungs- und Resilienztrainerin. Sie übt mit den Kindern, wie sie besser mit Konflikten umgehen können. An vier Vormittagen kommt sie dafür in die Kita.
"Herzlöwen" heißt das Programm, das Seidler für Kitas, Grundschulen und Vereine anbietet. Der Ableger „Piratenstark“, ein anderthalbstündiges Programm aus einer Mischung aus Theaterpädagogik, Selbstbehauptungs- und Resilienztraining ist im vergangenen Herbst beim Wettbewerb „Gesichter für ein gesundes Miteinander“, der DAK-Krankenkasse ausgezeichnet worden. Das Programm überzeugte die Jury, weil es Kindern zeige, wie sie besser mit Konflikten umgehen können. Das sei wichtig, da Mobbing und Konflikte immer häufiger bei Kindern auftreten würden, so die Begründung der DAK für die Auszeichnung des P,rojekts.
Herzlöwen und Piratenstark richten sich an Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren. Die Vorschulkinder der Kita gehören damit zu den jüngsten, die von dem Programm profitieren. Für sie ist es schon die zweite Stunde mit Seidler. In der ersten haben sie schon das Tiermodell kennengelernt. Dabei geht es um Schaf, Mücke und Löwe. Die Mücke ärgert das Schaf, woraufhin das zurückblökt, der Löwe aber lässt sich von der Mücke nicht aus der Ruhe bringen. „Ziel ist es, dass die Kinder am Ende des Kurses „Löwen werden“ und sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lassen, wenn sie jemand ärgert“, sagt Seidler.
Zu Beginn sei es aber normal, dass die Kinder darauf reagieren, wenn ihnen Tessa Gemeinheiten an den Kopf wirft. Tessa ist Seidler beziehungsweise eine Figur, die Seidler spielt. Die Viertklässlerin ärgert gerne, auch die Wintermoorer Vorschulkinder. Bevor sie auftaucht, bespricht Seidler mit den Kindern, wie sie sich am besten verhalten, wenn sie jemand ärgert, am Beispiel von Mücke, Schaf und Löwe. „Jeder ist mal Mücke oder Schaf“, sagt Seidler. Besser gehe es einem aber, wenn man es schaffe, ruhig zu bleiben, wie der Löwe. „Wenn mich jemand ärgert, ich mich aber nicht ärgern lasse, sondern weggehe und mit meinen Freunden spiele, habe ich dann eine doofe Zeit gehabt?“, fragt sie die Kinder. Nein, finden die und deshalb geht es im nächsten Schritt darum, das selbst zu üben.
Bevor Tessa auftaucht, geben die Kinder das Signal, sie zählen gemeinsam bis drei. Dann ist Seidler Tessa und trägt als Zeichen dafür eine Baseballcap. „Du bist ein Baby“ oder „Du bist blöd“, die Viertklässlerin fordert die Kinder heraus. Am Anfang rutscht ihnen manchmal noch ein „Nein, du bist ein Baby“ oder nur ein „Nein“ heraus. Seidler erinnert sie dann sanft daran, gar nicht zu reagieren, sich umzudrehen und mit den anderen zum Beispiel „Schnick, Schnack, Schnuck“ zu spielen. Je öfter die Kinder das üben, desto besser klappt es. „Stimmt das, was Tessa sagt?“, fragt Seidler zwischendurch. „Nein!“, wissen die Kinder. Die Rückversicherung ist wichtig, schließlich können Worte wehtun.
Darauf geht Seidler in einer anderen Übung mit den Kindern ein. Sie malt dafür ein Herz auf ein Blatt Papier. Die zehn Mädchen und Jungen dürfen dann nacheinander gemeine Sachen zu dem Herz sagen. Seidler geht den Stuhlkreis entlang, das Blatt Papier in den Händen, mit jedem fiesen Wort zerknüllt sie das Papier weiter, bis am Ende nur eine Kugel übrig bleibt. Wenn jemandem immer wieder gemeine Sachen gesagt werden, erklärt sie, könne es sein, das sein Herz am Ende so aussehe und die Person dann selbst nur noch gemeine Dinge sage. „Was können wir machen, damit es dem Herz wieder besser geht?“, fragt sie die Kinder. Ein Mädchen hat eine Idee: „Nur noch gute Sachen sagen.“
Das setzt die Gruppe gleich um: Statt „Du bist blöd“ oder „Halt den Mund“, hört das Herz jetzt „Du bist ein schönes Herz“, „Du bist meine allerbeste Freundin“ oder „voll krass“. Mit jedem netten Wort faltet Seidler das Papier weiter auf. Ob das Herz jetzt wieder aussehe wie vorher, fragt sie. Nicht ganz, denn vom Zerknüllen sind Falten geblieben. „So geht es auch echten Herzen, wenn sie etwas Gemeines gehört haben, bleibt immer etwas zurück“, erklärt Seidler.
Konfliktsituationen sind normal. Auch in der Schule. Seidler möchte die Kinder mit ihrem Programm darauf vorbereiten, mit diesen Situationen souverän umgehen zu können. Dass Schulen keine konfliktfreien Orte sind, zeigen Zahl einer Studie der Bertelsmann-Stiftung. Rund 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Grundschulen erleben demnach Hänseleien, Ausgrenzung oder sogar körperliche Gewalt. Befragt wurden Schüler im Alter von 8 und 14 Jahren. An Haupt-, Real-,Gesamt- und Sekundarschulen gab jeder Fünfte der Befragten an, im vergangenen Monat Mobbing erlebt oder mitbekommen zu haben. An Gymnasien berichtete jeder Zehnte davon. Insgesamt hat so mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen schon einmal Ausgrenzung, Hänseleien oder körperliche Gewalt erlebt.
Nicht immer sei es leicht, ruhig zu bleiben und nichts Gemeines zu sagen, erklärt Seidler. Was man machen könne, wenn man merkt, dass man wütend oder schlecht gelaunt ist und etwas Fieses sagen möchte, fragt sie die Vorschulkinder. Sie zeigt ihnen dafür den 1,2,3,4,5-Trick. Dafür legt sich die Gruppe auf den Boden, die Übung geht aber auch im Sitzen oder Stehen. „Macht eure Hand zur Faust und spannt alles im Körper an, dann zählt bis fünf“, leitet die Selbstbehauptungstrainerin die Übung an. Danach wird sich wieder entspannt. Das kann man beliebig wiederholen.
Ganz am Anfang der Stunde haben die Kinder mit Seidler den „mutigen Stand“ geübt: Füße auseinander, Schultern gerade und dem anderen in die Augen schauen. So vorbereitet, können sie sich gegen Tessa durchsetzen. Egal, ob die versucht ihnen etwas wegzunehmen, etwas Blödes zu ihnen sagt oder ihren Arm festhält - die Vorschulkinder wissen, wie sie sich verhalten können. So heißt es beim Abschluss der Stunde: „Ich bin, du bist, wir sind löwenstark.“