„Monotonie und Alltag sind die großen Killer“

André Sadjadian berät in seiner Praxis für Sexual- und Paartherapie in Bispingen Menschen, die sich nicht mehr wohlfühlen in ihren Ehen, die Probleme haben, Partner zu finden, unter Erektionsstörungen leiden oder abgerutscht sind in eine Sucht nach Pornografie, aus der sie keinen Ausweg mehr finden. Nichts Menschliches ist ihm fremd, könnte man wohl sagen. Im Interview mit der Böhme-Zeitung gibt er Einblick in seine Arbeit und erklärt, an welchen Fehlern Beziehungen oft scheitern.

Bedeutet Ihnen der Valentinstag etwas?

André Sadjadian: Eigentlich nicht, muss ich ehrlich sagen, aber Freunde und Bekannte haben mich schon erinnert. Wir fahren an dem Tag sogar weg. Nun werde ich wahrscheinlich auch eine Kleinigkeit für meine Partnerin besorgen. Ohne dieses Gespräch hätte ich das wahrscheinlich vergessen.

Sie beraten Paare in Liebesdingen und rund um die Sexualität. Wer kommt zu Ihnen und warum?

Paare kommen natürlich, wenn bei ihnen irgendwas nicht rund läuft. Vom Alter her ist alles dabei, von jungen Paaren Mitte 20 bis zu Paaren, bei denen beide über 70 sind, sich also wirklich schon am Lebensabend befinden. Auch die haben ihre Themen, und oft unterscheiden die sich gar nicht so stark von denen der Jüngeren, abgesehen davon, dass die keine Kinder mehr im Haus haben. Ein ganz häufiges Thema ist Lustlosigkeit. Paartherapie hat immer auch was mit Sexualität zu tun. Sex ist ja auch die erste große Motivation, den anderen kennenzulernen. Wir fühlen uns angezogen voneinander, und dann erleben wir in der Sexualität dieses wunderbare Miteinander. Nur geht das mit der Zeit oft verloren. Wirklich oft, bei ganz vielen Paaren, das muss ich leider so sagen. Es kommen im Alltag einfach so viele andere Themen, die alles überdecken. Viele bekommen Kinder, bauen ein Haus. Wir verstricken uns in verschiedene Dinge und wollen immer mehr, immer mehr. Dann kommt oft noch dazu, dass auch die eigenen Eltern Unterstützung brauchen. Dafür gibt es den Begriff der Sandwich-Eltern: Man kümmert sich als mittlere Generation gleichzeitig um die eigenen Kinder und die gebrechlich werdenden Eltern. Das Paar steht dazwischen und macht einfach alles. Dabei verliert die Paar-Ebene schnell an Priorität, obwohl sie die eigentliche Basis ist, die alles trägt und hält.

Welche weiteren Probleme entstehen typischerweise in längeren Partnerschaften?

Dauerndes Streiten ist ein Riesenthema. Ich mache sehr viele Coachings mit Paaren, die einen neuen Weg finden müssen, miteinander zu reden. Eigene Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken, ohne sich dabei gegenseitig zu verletzen.

Ist das Nachlassen sexueller Anziehungskraft in längeren Beziehungen unvermeidlich, weil es Teil unserer Biologie ist?

Das ist eine gute Frage. Ich kann auf der Basis des großen Spektrums, das ich kenne, bestätigen, dass die sexuelle Anziehungskraft in Partnerschaften nachlässt, das ist so. Ich würde allerdings nicht sagen, dass das biologisch begründet ist. Darüber gibt es meiner Kenntnis nach keinerlei Untersuchungen.

Ab wann tritt dieser Effekt in Partnerschaften ein?

Es ist wie so eine lineare Kurve, die langsam abnimmt. Genauer kann man es nicht beschreiben. Ich würde sagen, dass die ersten ein, zwei Jahre einer Beziehung sexuell oft sehr intensiv sind. Aber auch das lässt sich nicht generalisieren. Manche Paare haben in den ersten Jahren täglich oder sogar mehrmals täglich Sex, andere sind damit zufrieden, vielleicht einmal die Woche oder im Monat Sex zu haben. Es gibt hier keinen objektiven Maßstab dafür, was gut oder schlecht ist. Solange beide Partner glücklich miteinander sind, würde ich sagen, es ist richtig für sie. Probleme entstehen erst, wenn mit der Zeit andere Bedürfnisse und Wünsche da sind. Dann kommen die Menschen zu mir. Weil sich etwas verändert hat. Dinge haben sich eingespielt, Monotonie hat sich breit gemacht. Beide haben sich vielleicht an gewisse Rituale gewöhnt und wiederholen die dann immer und immer wieder. Das ist irgendwann nicht mehr so interessant, und dann fängt es an. Unser Körper ist nämlich ein ganz besonderer Sensor. Wenn ich irgendwas mache, was mir eigentlich nicht gefällt, und ich mache das wieder und wieder, dann sagt der Körper mir irgendwann: Ich habe gar keine Lust dazu. Das passiert. Da können wir gar nichts gegen tun.

Sie meinen Erektionsprobleme?

Unter anderem, so zeigt sich das bei Männern. Aber auch bei Frauen gibt es den Erregungsreflex, wenn mehr Blut durch die Genitalien strömt. Wenn das nicht mehr gegeben ist, hat die Frau oft Schmerzen beim Sex. Sie lässt es vielleicht trotzdem zu, aber ihr Körper entwickelt dann eben noch eine zusätzliche Lustlosigkeit. Er signalisiert ihr: Das macht mir keinen Spaß mehr.

Wenn Paare zu Ihnen kommen, ist wahrscheinlich schon viel vorgefallen. Sind die Beziehungen in der Regel noch zu retten, oder ist es oft besser, sich anständig zu trennen?

Je früher Paare sich Hilfe holen, je besser. Es gibt sicher Fälle, da kommen Paare zu mir und es ist schon zu spät. Aber als Paartherapeut habe ich schon immer den inneren Wunsch, dass Paare wieder zusammenkommen, dass es wieder harmonisch wird in der Beziehung. Ich möchte den Menschen helfen, glücklich zu werden. Ja, manchmal bedeutet das auch, eine Trennung zu akzeptieren, weil das für beide das Sinnvollere ist. Ich habe auch in meiner Praxis schon Trennungsrituale gemacht, mit denen Paare sich nach langem Ausprobieren bewusst dazu entschieden haben, jetzt auseinanderzugehen und diesen Schritt gemeinsam rituell zu vollziehen. Das kommt vor, aber nur selten.

Eine Beziehung ist immer etwas sehr Individuelles. Gibt es trotzdem Tipps, die Sie Paaren generell geben können, damit ihre Liebe bestehen bleibt beziehungsweise zurückkehrt?

Ja, auf jeden Fall. Zentral ist tatsächlich diese besondere Paar-Ebene, über die wir schon sprachen. Dass man sich gegenseitig versteht und die Verbindung zueinander das Wichtigste im Leben ist und bleibt, ist eben nicht selbstverständlich. Darauf muss man achten. Das heißt auch, sich Raum und Zeit zu geben füreinander. Für wirklich gute Gespräche, bei denen keine Kinder oder andere Personen in der Nähe sind, sodass die auch mal richtig in die Tiefe gehen können. Offene Gespräche sind ein ganz wichtiges Element, das vergessen viele Paare leider. Ehrlich miteinander zu reden heißt, Du-Botschaften zu vermeiden. Also nicht: Du machst immer dieses und jenes. Sondern: Ich empfinde dieses und jenes, ich habe diese Gefühle. Wenn wir so miteinander reden, fangen wir an, uns wirklich zu zeigen, und das ist ein ganz wichtiges Element von Zweisamkeit. Wenn wir diese Ebene erreicht haben, gehört als nächster Schritt dazu, als Paar bewusst Zeit miteinander zu verbringen. Zeit, in der man dann auch körperlich werden kann. Denn das ist wirklich schwierig für manche Paare. Wo gibt es denn überhaupt mal so ein Zeitfenster? Das Optimale wäre, sich zu Hause einen Raum zu schaffen, der wie eine Art Liebestempel ist. Schön eingerichtet, warm und mit Musik.

Viele Menschen empfinden Planung als eher unromantisch. Die Idealvorstellung ist doch, dass Dinge spontan geschehen.

Ich bin ein großer Fan von Planung und auch von Gesprächen. Ich kenne diesen Einwand, dass alles spontan geschehen und ganz von alleine passieren sollte. Sonst sei es unnatürlich, heißt es dann. Aber im Grunde genommen sind das alles nur Konditionierungen. Und manchmal geht es einfach nicht anders als mit Planung. Wenn wir uns diese Räume schaffen und uns daran gewöhnen, uns also umkonditionieren, können wir uns darauf einlassen, und auch offen über Sexualität reden.

„Lass uns reden“, auch so ein Killer ...

Nein. Frauen sagen zu mir: Das muss ich meinem Mann doch nicht extra sagen, das muss er doch von selbst verstehen, er sieht doch, wie es mir geht. Oder Männer sagen zu mir: Meine Frau muss doch wissen, was ich mag. Nein. Ich biete Übungen an, bei denen ich Paare anleite. Es sind ganz einfache Übungen, bei denen viel geredet wird. „Wie möchtest du, dass deine Hand jetzt berührt wird?“ „Ist das angenehm?“ „Tut dir das gut?“ „Sag ehrlich, was du jetzt brauchst, was würdest du dir wünschen?“ Ziel ist auch, dass die Paare ihre eigene Sprache entwickeln, eine Liebessprache, die nicht verletzend ist. Ich mache zum Beispiel auch kleine Übungen, bei denen man sich in die Augen schaut. Es ist beeindruckend, wie wenige Paare das zulassen können: Sich länger in die Augen schauen, ohne irgendwas sagen zu müssen. Einfach mal erkennen, wie es dem anderen gerade geht. Ehrlich mitzuteilen, wo man gerade steht. Sexualität ist meiner Meinung nach oft nur eine Folge der Nähe und der Bindung, die Menschen zueinander haben. Natürlich ist es möglich, Sex anders zu erleben. Aber dann entfernen wir uns voneinander. Wirkliche Partnerschaft braucht tiefe Nähe und Bindung. Dazu gehört, dass ich mich ehrlich zeige und auch kommuniziere, was sich gerade in mir bewegt und in mir los ist. Damit haben die meisten Paare Schwierigkeiten, die Frauen weniger als die Männer. Frage ich einen Mann, was er gerade fühlt, dann fällt es vielen ganz schwer, so etwas zu kommunizieren. Zum Beispiel mitzuteilen, dass ihn etwas verletzt hat, er sich einsam fühlt oder er Angst hat, seine Partnerin zu verlieren. Das sind oft ganz wichtige Botschaften, aber ein Mann traut sich nicht, sowas auszusprechen. Weil es für ihn sofort mit Schwäche verbunden ist, die er nicht zeigen möchte.

Heißt das im Umkehrschluss, dass Paare in der Regel auf Initiative der Frau zu Ihnen kommen?

Tendenziell schon, ich würde sagen in etwa 60 Prozent der Fälle. Dass Männer generell nicht kommen wollen, stimmt so pauschal wirklich nicht. Es geht auch nicht um einen permanenten Dialog über Sexualität. Aber zu wissen, was der andere als schön empfindet und miteinander in Kontakt zu gehen, kann motivierend sein. Ich sage immer, Rückmeldungen sind eigentlich Geschenke. Dafür sollten wir dankbar sein. Es kommt aber auf die Art an. Wenn zum Beispiel die Partnerin einfach zurückmeldet, dass sie etwas nicht mehr mag, was der Mann eigentlich regelmäßig tut, dann ist der natürlich verschreckt und denkt, er mache alles falsch. Aber wenn sie sagt, das ist schön, aber vielleicht könntest du mich noch ein bisschen anders berühren – dann ist es gleich was ganz anderes. Wir müssen lernen, liebevoll miteinander zu reden, verführerisch, auf eine Art, die den anderen nicht ablehnt, sondern mit ins Boot holt. Dann kann was richtig Schönes entstehen. Aber die meisten von uns haben nie gelernt, ehrlich zu reden, gefühlvoll zu reden und offen zu sagen, was sie brauchen.

Verändern sich die Bedürfnisse mit den Jahren?

Ja, unsere Sexualität verändert sich. Mit 18 ist sie eine andere als mit 30 oder 40, mit 50 oder mit 60. Unsere Körper verändern sich, unsere Wünsche und Bedürfnisse. Es ist wichtig, hinzugucken und das zu respektieren, auch unseren Partner so in seinem Wandel zu erkennen. Jede Zeit hat neue Räume, die wir entdecken und erforschen können. Und ich finde schon, dass wir unsere veränderten Wünsche und Bedürfnisse in den verschiedenen Zeiten äußern und auch mal neue Impulse in die Partnerschaft reinbringen sollten. Vielleicht geht man mal gemeinsam auf eine erotische Party, in ein Tantra-Seminar für Paare oder auch einen Swingerclub. Ich bin ja kein Moralist, wenn beide Lust auf sowas haben, finde ich das einfach nur mutig und schön. Oder man geht mal zusammen in einen Sexshop und lässt sich inspirieren, vielleicht in einen erotischen Film oder zum Dunkeldinner.

Ist Pornografie in dem Zusammenhang auch ein Thema, oder ist sowas für Partnerschaften eher schädlich?

Es gibt ja auch schöne Pornografie, die kann dann auch einen Impuls liefern. Paare müssen selbst herausfinden, was in einer bestimmten Lebensphase zu ihren Wünsche und Bedürfnissen passt und was nicht. Vielleicht verreist man einfach mal wieder zusammen. Ich habe ein paar Beispiele genannt, es gibt so vieles mehr. Auch an diesem Punkt ist wichtig, offen miteinander zu kommunizieren. So kann immer wieder was Neues entstehen. Ich lade die Paare dazu ein, kreativ zu sein. Monotonie und Alltag sind nämlich leider die großen Killer ganz vieler Partnerschaften.

Ist Viagra eine Lösung, wenn es nicht so läuft?

Es gibt ja viele Präparate mittlerweile, Viagra war das erste. Sowas kann in einer Partnerschaft schon eine große Stütze und Hilfe sein. Ich bin jedoch auch achtsam damit. Erektionsschwächen beim Mann können sich aus verschiedenen Gründen einschleichen, und das Problem ist dann oft eine entstehende Unsicherheit. So entsteht ein Kreislauf, ein Teufelskreis. Schon bevor es zu Sexualität kommt, denkt der Kopf daran, dass es wieder Probleme geben könnte. Und das ist eben oft sehr verletzend für den Mann, es kränkt seinen Stolz. Wir sagen in der Sexualtherapie, der Mann steht oft auf drei Beinen. Sie wissen, welches das dritte Bein ist. Dass das funktioniert, ist einfach wichtig für den Mann. Sind sie da unsicher, vermeiden manche, überhaupt in solche Situationen zu kommen, weichen also der Sexualität aus. Und dann wird dieser Teufelskreis immer größer, die Barriere immer höher. Tatsächlich können sogar Depressionen aus so einem Verhalten entstehen. In dieser Situation bieten Potenzmittel eine wunderbare Therapiemöglichkeit, natürlich immer abgestimmt mit einem Arzt, denn es gibt einfach wirklich viele Nebenwirkungen. Nach einer Weile empfehle ich dann aber auch, die Dosis wieder zu reduzieren und das Mittel langsam auszuschleichen. Damit wir uns nicht neu konditionieren und meinen, jetzt immer diese Pille zu brauchen, um Sexualität zu erleben. In diesem Rahmen, und wie gesagt mit ärztlicher Begleitung, finde ich es eine gute Sache. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, etwas für die Erektionsfähigkeit zu tun. Und in meiner Praxis arbeite ich natürlich tendenziell eher mit diesen Möglichkeiten, das ist mein eigentliches Metier.

Redet man in der Paartherapie eigentlich zu dritt oder jeweils einzeln mit dem Therapeuten?

Tendenziell sind die Paare immer zusammen da. Wenn ich merke, dass bei einem der Partner ein größeres Thema vorhanden ist, dann lade ich die Person aber auch mal einzeln ein. Nicht selten kommt es auch vor, dass einer der Partner kommt, und wir dann relativ schnell erkennen, dass es sich eigentlich um ein Paar-Thema handelt, bei dem der andere dabei sein sollte. Dann kommt in den Folgesitzungen der Partner oder die Partnerin mit dazu.

Auch Einzelpersonen und Singles kommen zu Ihnen, und zwar dann überwiegend Männer, wie Sie im Vorgespräch erzählten. Was sind da die Probleme?

Da geht es tatsächlich oft um Erektionsschwäche-Themen. Oder, dass die Männer zu früh kommen, zu aufgeregt sind und daher ihre Sexualität gar nicht richtig leben können. Und es geht um Ängste beim Kennenlernen von Frauen. Das sind eigentlich die häufigsten Themen. Ich berate auch gleichgeschlechtliche Paare, aber die meisten meiner Klienten sind heterosexuell. Wenn es bei Einzelpersonen um die genannten Themen geht, ist mir wichtig, aufzuzeigen, dass Sexualität viel mit dem eigenen Körper zu tun hat. Wir machen dann zum Beispiel auch mal Stimm- und Gehübungen. Wir gucken uns an, wo man im Leben steht, wie man in Beziehungen zu anderen steht, was für körperliche Aktivitäten da sind. Und natürlich geht es dann auch oft um das Thema Pornografie. Pornosucht ist gerade für viele jüngere Männer ein echtes Problem.

Zum Abschluss eine echte Valentinsfrage, schließlich ist der Tag der romantischen Liebe gewidmet: Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?

Ja, ich denke schon, dass es das gibt. Und es ist interessant, was da in uns passiert. Ich glaube, dass wir alle ein Bild von unserer Traumperson in uns tragen. Und manchmal matcht das einfach so mächtig und wenn es auch bei der anderen Person matcht, entsteht dieses große Wunder, dann empfindet man Liebe auf den ersten Blick. Dass das dann immer zu langfristigen Beziehungen führt, will ich nicht sagen. Die andere Ebene ist nämlich – das ist jetzt meine persönliche Meinung – dass wahre Liebe, richtig tiefe Liebe, langsam kommt und sich immer stärker aufbaut.

Andre RicciKommentieren