„Couchsurfing ist nicht romantisch“
Es ist ruhig an diesem Morgen in dem weißgetünchten Haus an der Karl-Baurichter-Straße 6 in Soltau. Ein junger Mann ist da mit Rucksack und schwarzlockigem Hund. Sozialpädagogin Annika Paul fischt aus einem Karton Flüssigseife und gibt sie ihm mit. Die Packung verschwindet im Rucksack, für den Hund gibt es Futter. Am Tisch sitzt eine Frau, sie telefoniert laut mit ihrem Handy. Es geht um finanzielle Nöte.
Noch vor der Coronazeit war es deutlich wuseliger in der Beratungsstelle des Vereins Lebensraum Diakonie an der schmalen Stichstraße, nicht weit von Soltaus Innenstadt entfernt, wo es einen Raum zum Duschen gibt, eine Waschmaschine, frische Wäsche und auch etwas zu Essen. „Die Menschen sind vorsichtig geworden. Sie tun sich schwer, sich zu treffen“, sagt Paul. Erst langsam laufe das ursprüngliche Programm wieder an mit Frühstücksangebot einmal in der Woche und dem monatlichen Kochen oder Grillen.
Dabei, so erklärt sie, habe sich die Lage für Menschen in prekären Situationen in den letzten Monaten deutlich verschärft. Nach Corona, dem Ukraine-Krieg mit seinen Auswirkungen auf die Energiekosten und nun noch durch die Inflation seien auch im Heidekreis viele Menschen in wirkliche Not geraten, bangten um Wohnung und Existenz. „Da braucht es nur eine blöde Trennungsgeschichte, eine Suchterkrankung, psychische Not – und man kann Miete und Strom nicht zahlen. Dann ist die Wohnungslosigkeit schneller da als man denkt“, erklärt Diplom-Sozialarbeiter Volker Jung.
Wie immer am 11. September sollen auch am heutigen Montag zum Tag der Wohnungslosen diese Menschen im Mittelpunkt stehen. 372 000 Männer und Frauen leben nach offiziellen Angaben deutschlandweit auf der Straße – Tendenz steigend. Knapp 60 Klienten, die wohnungslos sind oder werden könnten, betreut die Beratungsstelle von Soltau aus im gesamten Heidekreis. Es geht um Teilhabe und Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, um Integration, um ein selbstbestimmtes Leben.
Oft geht es für die Menschen aber um viel weniger, mit jedoch weitreichenderen Folgen: die finanziellen Mittel wie Wohn- oder Bürgergeld auch tatsächlich zu bekommen. Ohne feste Adresse, ohne eigenes Konto. „Sie werden von allen viel zu wenig gesehen“, findet Paul für ihre Klienten. Der Rechtfertigungsdruck sei groß, doppelt müsse die Not geprüft werden, bis Geld bereitgestellt wird. Sie habe eine Frau betreut, die das Bürgergeld im März beantragt habe, Ende Juli sei es bewilligt worden. „Sie hatte dazwischen kein Geld. Nichts. Sie hat geklaut, von Lebensmittelgutscheinen gelebt, die Familie angepumpt, was den Konflikt noch einmal verschärft hat.“ Für viele sei es schwierig, Bankauszüge vorzulegen, Ausweise und die dafür notwendigen Passbilder zu organisieren. „Da werden mal schnell 50 Euro fällig. Wenn man sich schon Lebensmittel nicht leisten kann, wie dann solche Kosten?“, fragt sich Paul. Ämter gingen nicht in Vorleistung, oftmals springe die Diakonie selbst ein, borge Geld, stelle die Meldeadresse oder das eigene Konto zur Verfügung.
Rund 120 Obdachlose gibt es im Heidekreis
„Die Dunkelziffer ist natürlich deutlich höher“, weiß auch Beratungsstellenleiter Jung, der für den Heidekreis, Uelzen und Lüchow zuständig ist. Rund 120 Obdachlose gibt es im Heidekreis, untergebracht teils unter menschenunwürdigen Umständen in den Obdachlosenheimen vor allem der größeren Kommunen. Menschen, die dort teilweise schon sehr lange lebten, seien von allen anderen Systemen nicht aufgefangen worden. Ins Obdachlosenheim in Soltau traut sich Paul nur mit Begleitung der Mitarbeiter des Ordnungsamts. Die sogenannten Schlichthäuser würden für Frauen mit Kindern und junge Erwachsene vorgehalten. Insgesamt wolle man es diesen Menschen nicht „zu gemütlich machen“.
Viele Menschen ohne Obdach aber übernachteten bei Freunden oder Bekannten. „Couchsurfing ist nicht romantisch“, sagt Jung. Gerade Frauen gerieten oft in Abhängigkeiten, wenn für die Gefälligkeit eine Gegenleistung gefordert werde. Er spricht von verdeckter Prostitution bei versteckter Obdachlosigkeit.
Der Lebensraum Diakonie hat seinen Sitz in Lüneburg, zehn Beratungsstellen werden von dort aus geführt, dazu gehören auch Wohnmöglichkeiten in Rotenburg und Lüneburg. Im Heidekreis bietet die Diakonie das nicht, es werde nicht finanziert. Für das von Soltau aus koordinierte Angebot der Wohnungsnotfallhilfe, Beratung und Teilhabe gebe es aber eine enge Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen in den Verwaltungen und auch mit weiteren sozialen Verbänden.
Dennoch, so sind sich Jung und Paul einig, würden die Menschen, die Wohnungsnotfallhilfe benötigten, als Randgruppe gesehen, zu wenig beachtet. Die Hoffnung, dass diese Menschen irgendwie in andere Städte weiterzögen, sei trügerisch und löse das Problem nicht. Es fehle einfach auch im Heidekreis am sozialen Wohnungsbau, so die Diakonie-Mitarbeiter. Werde saniert, würden die Wohnungen meist teurer neu vermietet. Das Bürgergeld begrenze überhaupt die Auswahl an günstigem Wohnraum, die Konkurrenz sei groß, denn auch Alleinerziehende mit Kindern oder Menschen mit geringem Einkommen seien auf solche Wohnungen angewiesen. In Munster mit vielen privaten Anbietern sei das Problem nicht so groß. In Soltau mit einem Anbieter gebe es oft 80 Anfragen auf eine neue Wohnung.
Auch wenn es zurzeit bei der Bearbeitung von Anträgen bei den Behörden ruckelt, könne man nicht einfach den schwarzen Peter dorthin schieben, betonen beide Sozialarbeiter. Bürgergeld und Wohngeld, da sei viel getan worden, aber viel mehr Menschen hätten jetzt einen Anspruch. Und so fehlten in den Behörden die Fachkräfte. „Da kann man nicht immer aufs Amt schimpfen, aber am Ende ziehen die Menschen auf der Straße den Kürzeren.“ Zum Tag der Wohnungslosen jedenfalls fordern sie auf, nicht nur heute, sondern einmal öfter hinzuschauen.