Schneller Weg zur neuen ICE-Trasse wird geebnet
Kurz vor der Sommerpause wird im Berliner Reichstag aufs Tempo gedrückt. Insbesondere das Vorhaben der Bundesregierung, ihr entschärftes Heizungsgesetz noch vor den am 7. Juli beginnenden Parlamentsferien zu verabschieden, versinnbildlicht die Eile auf den letzen Metern. Doch es gibt noch eine Reihe anderer, teils umstrittener Gesetzesvorhaben, die in diesen langen Sitzungstagen verabschiedet oder wenigstens auf den Weg gebracht werden sollen. Darunter auch eines, das die Zukunft des Schienenverkehrs zwischen Hamburg und Hannover betrifft. In den Bürgerinitiativen gegen eine ICE-Neubaustrecke herrscht Sorge, dass schon vor der eigentlichen Bundestagsentscheidung Fakten geschaffen werden.
Grund der Besorgnis ist die Bundestagsdrucksache 20/6879, die am Donnerstag, 22. Juni, für Punkt 12 Uhr auf der Tagesordnung steht. Hinter dem sperrigen Titel „Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2021/1187 über die Straffung von Maßnahmen zur rascheren Verwirklichung des transeuropäischen Verkehrsnetzes“ verbirgt sich unter anderem eine Anhang-Liste von Verkehrsprojekten, denen ein „überragendes öffentliches Interesse“ bescheinigt wird. Sie werden damit rechtlich privilegiert und können beschleunigt realisiert werden. Zu den vordringlichen Projekten gehört der Aus- oder Neubau der Strecke zwischen Hamburg und Hannover. Weil das erhöhte Interesse an dieser Baumaßnahme aus den Anforderungen des Deutschlandtakts gezogen wird und gleichzeitig Geschwindigkeitsvorgaben für Alpha E gemacht werden, die im Rahmen der bisherigen Entwürfe nicht erreicht werden (Höchst- geschwindigkeit 250 Stundenkilometer oder schneller), sprechen Kritiker von einer Vor-Festlegung.
Eine Vorentscheidung im engen Sinne sei es nicht, räumt Stephan Müller, Bispinger Sprecher der Bürgerinitiative „Unsynn“, im Gespräch mit der Böhme-Zeitung ein. Die grundsätzliche Weichenstellung sei jedoch unverkennbar. Sie ergebe sich auch daraus, dass die im Alpha-E-Konzept enthaltenen Baumaßnahmen zur Ertüchtigung des Schienenverkehrs in zwei getrennte Bündel „zerrissen“ werden. „Die Absicht ist völlig klar“, konstatiert der BI-Sprecher und erfahrene CDU-Kommunalpolitiker, der schon den Widerstand gegen die sogenannte Y-Trasse der Bahn unterstützt hatte. Er attestiert den Lobbyisten der Deutschen Bahn großes Geschick. „Strategisch genial“, so der ehemalige Soldat und Stabsoffizier.
Ausgerechnet die Verabschiedung des „Beschleunigungsgesetzes“ verzögert sich. Eigentlich sollte der Bundesrat es in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause am 7. Juli verabschieden. Daraus wird nichts. Das Gesetz wird morgen erst einmal in den Bundestag eingebracht, in erster Lesung. Der Streit innerhalb der Bundesregierung, nicht nur über das Heizungsgesetz, verzögert die Gesetzgebungsverfahren. Denn auch beim Beschleunigungsgesetz gab es Differenzen, vor allem zwischen den Grünen und der FDP. Besonders umstritten ist die Privilegierung von Straßenbauprojekten. Darüber hinaus stellt sich die Grundsatzfrage, ob die vorgesehenen Einschnitte in den Rechtsschutz gegen Infrastrukturprojekte generell zu weit gehen. „Da werden massiv Bürgerrechte eingeschränkt“, gibt Stephan Müller, Bispinger Sprecher der Bürgerinitiative „Unsynn“, zu bedenken.
Protestbriefe an Verkehrsminister Volker Wissing
Beschleunigt realisiert werden sollen „Projekte von überragendem öffentlichen“ Interesse – darin sehen Kritiker eine Art Freibrief für die Legislative, denn der Begriff ist nirgends definiert. „Es handelt sich um eine Phrase, mit der erneut der Rechtsweg beschnitten, Belange des Klima- und Umweltschutzes herabgestuft und massive CO2- Emissionen in Kauf genommen werden“,klagt das Aktionsbündnis Bahn-Bürgerinitiativen Deutschland (ABBD) und fordert, das angelaufene Gesetzgebungsverfahren zu stoppen. Die Seevetaler Bürgerinitiative „Y-Monster“ unterstützt diese Forderung mit einer Brief-Aktion. Mehr als 3000 Bürgerinnen und Bürger haben sich daran beteiligt, teilen Aktivisten aus dem Landkreis Harburg mit. Sie alle hätten „Brandbriefe“ an Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) und weitere Entscheider in Berlin geschickt, mit kritischen Fragen zur möglichen Neubaustrecke. „Die Masse an Briefen zeigt, dass es auch ein überragendes öffentliches Interesse gibt, diesen Schritt zu verhindern“, heißt es aus Seevetal.
Dass der angelaufene Gesetz-gebungsprozess tatsächlich aufgehalten werden kann, erscheint wenig wahrscheinlich. Es geht um sehr viele Projekte und das Paket wird wohl nicht noch einmal neu geschnürt. Im Bahnbereich geht es insbesondere um alle Maßnahmen zur Umsetzung des Deutschlandtaktes. Ob sich dieser bundesweit vereinheitlichte Taktfahrplan auch mit Alpha E umsetzen ließe, ist heftig umstritten, ebenso die Frage, ob das ehrgeizige Projekt überhaupt zu bewältigen sei.
Das Beschleunigungsgesetz könnte freilich auch der Turbo für die Umsetzung von Alpha E sein – vorausgesetzt, der Bundestag entscheidet sich für Ausbau statt Neubau. Die Wahrscheinlichkeit dafür scheint gerade zuzunehmen, denn in der größten Bundestagsfraktion wächst der Widerstand gegen die Neubaupläne. Die einflussreichen SPD-Landesgruppen aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sprechen sich in einem Beschluss mit großer Mehrheit für Alpha E aus.
Pro Bahn: SPD gefährdet Verkehrswende und Deutschlandtakt
„Ich bin sehr froh, dass die beiden Landesgruppen ein so deutliches Zeichen für das optimierte Alpha E und den Ausbau der Bestandsstrecke setzen“, erklärt Lars Klingbeil. Der SPD-Chef und örtliche Bundestagsabgeordnete gehört zu den Initiatoren des Vorstoßes. „Wir stehen zur klaren Priorisierung der Schiene und sind für einen Ausbau", so Klingbeil. „Aber wir sind der festen Überzeugung, dass uns das nur im Einklang mit dem Willen der Bevölkerung so schnell gelingt, wie wir es für das Erreichen unserer Klimaziele brauchen.“ Die Abgeordneten beziehen auch Position zum Beschleunigungsausbaugesetz. Dass dort Stundenkilometerzahlen als Minimum für die Strecke zwischen Hamburg und Hannover definiert werden, die sich nur mit einer Neubautrasse realisieren ließen, halten sie für einen Fehler. „Ich warne ausdrücklich davor, den Bürgerinnen und Bürgern zugesagte Positionen nicht umzusetzen", sagt Klingbeil. „Gerade in Zeiten, in denen es wichtig ist, Infrastruktur auf allen Ebenen voranzutreiben, dürfen wir das Vertrauen in politische Prozesse nicht erschüttern."
Der Fahrgastverband Pro Bahn wirft Klingbeil Populismus vor. „Im Heidekreis, dessen Bundestagsabgeordneter Klingbeil ist, gibt es zahlreiche lautstarke Bürgerinitiativen, die jeden Ausbau des Schienenverkehrs in ihrer Nähe ablehnen, und Klingbeil möchte wiedergewählt werden", heißt es vom Verband. Man sei „entsetzt über dieses durchsichtige Manöver, das Deutschlandtakt und Verkehrswende gleichermaßen gefährdet".