„Wir müssen Pazifismus neu definieren“
Moritz Fischer ist Professor für Weltchristentum und Missionsgeschichte an der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie (FIT) in Hermannsburg im Kirchenkreis Soltau. Fischer ist in der christlichen Friedensarbeit aktiv und gehört zu den Unterzeichnern des Aufrufs „Der Krieg muss enden! Gewaltfreiheit wirkt!“, mit dem die Oster-Friedensaktion in Unterlüß beworben wird. Die BZ sprach mit dem 1961 geborenen evangelischen Theologen über sein Engagement, Zweifel und pazifistische Perspektiven.
Ostern wird, nicht zuletzt wegen der Ostermärsche, mit Frieden assoziiert. Was hat Ostern aus christlicher Sicht mit Frieden zu tun?
Prof. Dr. Moritz Fischer: Zentral ist die Osterbotschaft, deren Kern die Auferstehung ist. Dem voraus geht – für protestantische Christen besonders bedeutsam – die Kreuzigung. Kein Ostern ohne Karfreitag. Es geht zunächst ans Eingemachte, um den Menschen in seiner Schwäche und Bedürftigkeit, in seinem Versagen. An dieser dogmatisch wichtigen Stelle zeigt sich, symbolisiert durch das Kreuz, dass Gott sich nicht zu schade ist für die Welt und das Leid der Menschen. Er identifiziert sich mit unserem Unrecht und gibt seinen Sohn dafür her, an unserer Stelle die Schuld auf sich zu nehmen. Das hat eine Erlösungskomponente. Ich muss nicht alles alleine schultern, mich nicht verstecken mit meiner Scham und dem, was mir unangenehm ist. Ich kann alles loswerden. Die Befreiung des Menschen gipfelt im Licht des Ostermorgens. Ein neuer Tag, ein neues Leben. Mit Blick auf Krieg und Frieden heißt das: Der Einzelne, wie verwickelt er auch sein mag, kann auf Vergebung und Neuanfang hoffen. Die Tradition der Ostermärsche entwickelte sich im Nachklang zum Zweiten Weltkrieg. Es ging um ein Zeichen gegen Wiederbewaffnung und Atomwaffen. In dieser Tradition steht die Osteraktion in Unterlüß, die ich gerne mit meiner Unterschrift unterstütze, auch wenn ich selbst Ostern in Bayern verbringe und nicht persönlich dabei sein kann. Am Montag nehme ich aber wie möglichst jedes Jahr an einem Ostermarsch teil.
Im Vorfeld unseres Gesprächs schickten Sie mir das Bild einer Holzschnittarbeit des Künstlers Otto Pankok aus dem Jahr 1950: Christus zerbricht das Gewehr. Was hat es damit auf sich?
Für mich drückt das Motiv Stärke aus. Jesus ist nicht nur der, der am Kreuz hängt. Er zerbricht die Waffe. Predigt nicht nur,sondern handelt. Damit erteilt er zugleich uns die Vollmacht, diese Welt zu verändern. Ich bin ja in den 1960er- und 70er-Jahren groß geworden, da spielten Widerstand und Protestmusik eine große Rolle. Meine Schwester ist adoptiert, sie gehörte 1969 im Alter von einem Jahr zur ersten Gruppe von Waisenkindern, die Terre des Hommes aus dem Vietnamkrieg nach Deutschland brachte. Sie war sicher traumatisiert. Der Krieg hatte auch körperliche Spuren hinterlassen. Meine Schwester hatte offene Trommelfelle und sie kam in Deutschland erst einmal in Quarantäne. Meine Eltern wurden auf die Möglichkeit einer Adoption durch eine Reportage von Peter Scholl-Latour über den Vietnamkrieg aufmerksam. Auch sie wollten die Welt verändern. Sich als Christen verantwortlich zu fühlen und aus dem Glauben heraus zur Handlung zu finden: Das hat mich geprägt. Mein Vater war mit 15, 16 Jahren Flakhelfer. Ich habe das alles mitgenommen und dann in den 1970er-Jahren den Kriegsdienst verweigert – in Bayern, zu Zeiten von Franz-Josef Strauß, dem „ein kalter Krieg lieber war als ein warmer Bruder“, wie er sagte. Gegen solche Sprüche haben wir versucht, uns eine eigene Meinung zu bilden. So habe ich den Kriegsdienst verweigert und sehr gerne Zivildienst geleistet in einer Einrichtung für schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche.
„Ich maße mir keine Deutungshoheit an"
Heute fallen Christen nicht durch besonderen Pazifismus auf. Der Moskauer Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche Kyrill I. befürwortet Putins Angriffskrieg. Die beiden großen Kirchen in Deutschland sehen die militärische Verteidigung der Ukraine und westliche Waffenlieferungen als legitim an.
Differenzierung ist wichtig, es kann nicht um reine Gesinnungsethik gehen. Ich bin immer um Respekt gegenüber anderen Positionen bemüht. Wenn ich freitags von Unterlüß nach Bayern heimfahre, ist der halbe Zug mit uniformierten Soldaten gefüllt. Da geht in meinem Inneren schon was ab. Aber ich möchte mich nicht über andere Menschen erheben und maße mir mit meinem pazifistischen Bewusstsein nicht die Deutungshoheit an. Ich habe in Diskussionen dazugelernt. Bei der Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit kann es nötig sein, sich mit Waffen zu wehren. Auch als Christ muss man sich nicht lammfromm aufs Schafott begeben. Widerstand kann aber auch gewaltlos sein und mit Versöhnung einhergehen. Das sind Debatten, die von den Medien unterdrückt werden.
„Der Krieg muss enden, Gewaltfreiheit wirkt!“ steht im Aufruf zur Osteraktion, den Sie unterzeichnet haben. Ist das nicht reines Wunschdenken?
Der Aufruf ist kurz und plakativ. Gewaltfreiheit kann wirken, muss aber nicht. Ich weiß aus inoffiziellen Quellen, dass Ukrainerinnen und Ukrainer ebenso wie regimekritische Russinen und Russen für gewaltfreie Aktionen hohe Risiken eingehen und ins Gefängnis kommen. Damit sympathisiere ich. Solche Beispiele finden in der offiziellen Presse leider kaum Beachtung. In den Medien wird stark schwarz-weiß gemalt.
Ist der Abwehrkrieg der Ukrainer ein gerechter Krieg im christlichen Sinne?
Mit dem Begriff habe ich extreme Schwierigkeiten. Krieg ist immer ungerecht. Er kann verantwortungsethisch zu rechtfertigen sein, aber ihm voraus geht immer ein furchtbares Versagen. In Russland und der Ukraine wurden der Nationalismus hochgekocht und Menschen dadurch beschädigt. Hinzu kommt die Politik der Nato. Das ist nicht unser Thema, aber meines Erachtens lief da vieles schief. Das verhaltene Agieren von Bundeskanzler Olaf Scholz fand ich vor diesem Hintergrund gar nicht schlecht, auch wenn es noch nicht die Lösung ist. Ich bin zwiegespalten wie viele andere auch und gebe zu, einen leisen Triumph zu empfinden, wenn die Ukraine eine Stellungen hält oder vormarschiert. Das steckt in uns drin und ich bin unsicher, wie ich das ethisch beurteile. Wir stoßen an Grenzen der Debatte und müssen Pazifismus und Gewaltfreiheit neu definieren. Und uns sagen lassen, dass wir Profiteure sind. Die Kriegsgewinnler sitzen zum Beispiel bei Rheinmetall in Unterlüß. Die Lasten tragen vor allem Geringverdiener, die unter der Inflation leiden.
„Das Thema hat auch eine spirituelle Ebene"
Wie wird in der FIT in Hermannsburg über den Krieg diskutiert?
Ich habe eine Doktorandin aus Myanmar, die seit dem Putsch nicht mehr dorthin zurückkehren kann. Die Maschinengewehre der dortigen Militärjunta wurden von Rheinmetall produziert. Einer meiner Studenten stammt aus dem kongolesischen Bürgerkriegsgebiet, in dem unter anderem Coltan abgebaut wird. Wir sind direkt dran an globalen Themen. Der Ukrainekrieg steht an der kleinen Hochschule aber nicht im Fokus.
Viel wird über eine Renaissance der Friedensbewegung spekuliert. Nehmen Sie in der Region stärkeren Zulauf wahr?
Es ist zu hoffen, dass es eine neue Friedensbewegung wird und nicht eine Kopie der alten. Kein unreflektiertes Zurück in die laute Euphorie der 70er- und 80er-Jahre. Ich habe mich damals von Demonstrationen, sobald sie krawallig wurden und es zu mutwilliger Sachbeschädigung kam, zurückgezogen und lieber für den Frieden gefastet, gebetet und mich an Mahnwachen beteiligt. Das Thema hat auch eine spirituelle Ebene, dabei geht es um den Umgang mit eigener Aggression.
Die evangelische Kirche überarbeitet ihre Friedensethik. Bewegt sie sich in die richtige Richtung?
Ich habe Angst, dass sie ihren Weg verlässt. Im Heidelberger Friedensmemorandum der Evangelischen Studiengemeinschaft von 1983 steht: „Wer sich für den Gewaltverzicht entscheidet, macht von der einen Möglichkeit christlicher Friedensverantwortung gebrauch. Sein Nein ist begründet, denn er weiß, dass die zur Verteidigung eingesetzten Waffen zerstören können, wen sie schützen sollen. Sein Nein ist wahrhaftig, wenn er die möglichen Konsequenzen der Wehrlosigkeit zu ertragen bereit ist. Sein Nein hat politische Bedeutung, denn es will ermöglichen, über die Bedingungen einer Sicherheitspolitik nachzudenken, die nicht mit Mord und Selbstmord drohen muss.“
Sollte die Kirche zu konkreten Fragen wie Waffenlieferungen überhaupt Stellung beziehen?
Ich würde sagen: Waffenlieferungen ja, aber auch Verhandlungen. Das Friedensmanifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer habe ich nicht unterzeichnet. Deren Gebaren finde ich schrecklich, da sie politisches Kapital aus einer unabhängigen Friedensbewegung, die sie kopieren, schlagen wollen. Mit Waffenlieferungen allein macht man es sich aber auch zu einfach.
Wachsende Friedenssehnsucht oder wachsender Militarismus, wie lautet Ihre Prognose?
Ich glaube, dass sich die Friedenssehnsucht durchsetzen wird. Es ist sehr viel Arbeit bis dahin. Aber als Christ muss ich Optimist sein.