Arsen, Granaten und Blindgänger

Ulrich Heuer läuft dort, wo früher einmal ungefähr das Clarkwerk war, den Boden mit der Sonde ab. Die Schutzanzüge werden nach jedem Betreten der Flächen entsorgt, um Kontaminationen gar nicht erst aus den Flächen herauszutragen. Foto: bk

Der ehemalige Gasplatz Breloh ist neben dem Dethlinger Teich das wohl aufwändigste Sanierungsareal in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Doch während der Dethlinger Teich als Vorzeige-Sanierungsprojekt eine definierte kleine Fläche ist und in überschaubarer Zeit abgeschlossen werden soll, sieht das mit den Flächen des Gasplatzes Breloh (1916 bis 1919) und der Heeresversuchsstelle Munster Nord (1935 bis 1945) schon anders aus. Hier sind 76 Teilflächen in einem Umfang von 1678 Hektar von Kontamination betroffen. Das entspricht 16,5 Prozent des gesamten Truppenübungsplatzes (TÜP) Munster Nord.

Die erste großflächige Belastung entstand im Oktober 1919 mit dem tödlichen Inferno auf dem Gasplatz Breloh, als tausende Tonnen Kampfstoffe und Kampfmittel explodierten, die nicht nur aus Restmengen der Endkriegszeit, sondern auch aus rückgeführter Munition auf Grundlage des Demobilisierungsplans bestanden. 1920 und im Jahr darauf wurden zuerst die Deutsche Evaporation AG (Deva) mit der Räumung der Trümmer auf dem Gasplatz und dann die Chemischen Fabriken Stoltzenberg mit der Vernichtung unverfüllter Kampfstoffe beauftragt. Die Arbeiten hielten bis 1925 im Bereich der Fabrik für Chlor-Arsen-Kampfstoffe (Clark-Werk) sowie auf den zwei Vernichtungsplätzen „Sorgenlos“ und „Balzwiese“ an. Die Vernichtungs- und Entsorgungsarbeiten entsprachen allerdings nicht ansatzweise heutigen Standards.

Unter dem nationalsozialistischen Regime wurde die Nutzung des Gasplatzes zur Entwicklung und Erprobung von Kampfstoffen und Kampfstoffmunition wieder aufgenommen. Die Bestände in Munster und in den umliegenden Wäldern waren so hoch und in der schieren Masse auch derart gefährlich, dass die Wehrmacht zur Verhinderung eines zweiten Infernos in den letzten Tagen des Krieges im April 1945 angesichts der vorrückenden Briten entschied, die weiße Flagge zu hissen und den Großbereich Munster kampflos aufzugeben und auf die Kampfstoffdepots hinzuweisen.

Ein Jahr nach dem Einzug der Briten in Munster begann die Demilitarisierung mit Demontage und Dekontaminationsarbeiten. Dabei wurden Kampfstoffmunition und Kampfstoffe auch an Ort und Stelle durch Vergraben, Verbrennen und auch durch Versickerung entsorgt. Ein exaktes Verzeichnis dazu existiert nicht. „Die Verteilung im Gelände ist für uns nicht nachvollziehbar“, erklärt der die Sanierungsarbeiten auf der Truppenübungsplatz leitende Oberstleutnant Markus Ruhland im Gespräch mit der BZ. Anfang der 1950er-Jahre habe es erneut Dekontaminationsarbeiten gegeben, allerdings immer noch nicht nach heutigen modernen Standards.

Die systematische Untersuchung und Dekontamination des Grundwassers wurde erst 1999 aufgenommen. Eine Grundwassersanierungsanlage im südlichen Bereich des TÜP Munster Nord saniert das Grundwasser auf einer Gesamtfläche von rund 80 Hektar. Die hochleistungsfähige Anlage kann im Maximum 194 Kubikmeter Wasser stündlich durchlaufen lassen, was 1,7 Millionen Kubikmeter jährlich entspricht.

2007 haben die Bundeswehr und die beteiligten Behörden die sukzessiven Sanierungsarbeiten an den Bodenflächen aufgenommen. Beteiligt sind dabei außer der Bundeswehr auch die Wasser- und Naturschutzbehörden der Landkreise Heidekreis, Lüneburg und Uelzen, das Gewerbeaufsichtsamt Celle, die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima), die Bundesforsten, einige Unternehmen in der Begutachtung und Planung von Böden und Grundwasser sowie der Kampfmittelräumdienst und die Gesellschaft zur Entsorgung chemischer Kampfstoffe und Rüstungsaltlasten (Geka).

Die Verteilung der Munition im Gelände ist für uns nicht nachvollziehbar
— Markus Ruhland, Oberstleutnant

Seit Beginn der Kampfmittelbeseitigung sind die als potenziell sanierungsbedürftig identifizierten Flächen in Planquadrate aufgeteilt worden, um die Suche, Bergung und Sanierung systematisch abzuarbeiten. Die genauen Flächen gibt die Bundeswehr aus Sicherheitsgründen nicht bekannt.

Dabei mussten in einer ersten Phase zunächst die kontamina-tionsverdächtigen Flächen erfasst und der Handlungsbedarf abgeschätzt werden. Dort, wo in der zweiten Phase eine orientierende und anschließende Detail-Untersuchung durchgeführt wird, findet auch eine entsprechende Gefährdungsabschätzung statt. In Phase drei erfolgt die Planung und Durchführung der Sanierung sowie die anschließende Nachsorge.

Im bearbeiteten Planquadrat stecken die Suchtrupps mit Fähnchen 20 mal 20 Meter große Flächen ab, die systematisch mit Detektor und Spaten abgegangen werden. Der primäre Auftrag dabei: das Auffinden von Kampfmitteln.

Müssen Blindgänger oder vergrabene Granaten beseitigt werden, kommen Spezialisten zum Einsatz. Erst im zweiten Schritt kann der Boden untersucht werden. Um etwaige Kontaminationen nicht aus den Flächen herauszutragen, müssen die in den Flächen aktiven Soldaten und zivilen Mitarbeiter Schutzanzüge tragen, die in einer Schleuse ausgezogen und entsorgt werden – ein hoher Aufwand für eine Jahrhundertaufgabe.

Die früheren Erprobungsflächen für Kampfmittel werden noch heute für Schießübungen genutzt. Da die Arbeiten mit dem Übungsbetrieb auf dem Truppenübungsplatz koordiniert werden müssen, kommt es zu Unterbrechungen. Doch allein die schiere Größe der Verdachtsflächen und die Unkenntnis über das dort Anzutreffende dürften die Bundeswehr und die beteiligten Institutionen im Heidekreis und der Region noch über viele Jahrzehnte beschäftigen. „Wir sind schlicht nicht in der Lage zu sagen, wann das Projekt abgeschlossen sein wird“, kann Oberstleutnant Ruhland in dieser Frage keine zeitliche Dimension abschätzen.

Was die Arbeiten nicht leichter macht, ist der Umstand, dass die Natur sich die einstmals leeren Flächen zurückerobert hat. So müssen Bäume so beschnitten werden, dass die Arbeiten der Sondengänger, deren Blick auf den Boden konzentriert ist, unfallfrei ermöglicht werden.

Im Nahbereich der Sanierungsflächen befindet sich ein Container-Camp, zu dem auch ein Sanitätszelt mit zwei OP-Plätzen gehört. „Dieser Bereich wandert mit den Sanierungsarbeiten mit“, erklärt Ruhland. Zwischen der konkreten Sanierungsfläche und dem Sanitätsbereich dürfe kein zu großer Abstand bestehen, um im Notfall schnellstmöglich eine ärztliche Versorgung oder Evakuierung sicherstellen zu können. Wenn in den Flächen gearbeitet wird, ist auch die Sanitätseinrichtung mit medizinischem Personal immer besetzt.

Bei den Sanierungsarbeiten wurden auch Schwefellost-Fässer gefunden, die aus dem Clark-Werk I stammten, berichtet Dr. Ulrich Lange vom Kompetenzzentrum Baumanagement der Bundeswehr. „Die vergrabenen Behältnisse sind bis zu zehn Meter tief zu finden“, erklärt er. Dass die Gefahren sich nicht nur aus Giften, beispielsweise aus arsenhaltigen Kampfstoffen, ergeben, sondern auch Blindgänger und andere Kampfmunition im Spiel sind, bekam ein Arbeitstrupp im vergangenen Herbst zu spüren. Beim systematischen Absuchen einer Fläche war eine Nebelgranate aus der Wehrmachtszeit hochgegangen. Die gesamte Sicherungskette zwischen der Fläche und dem Sanitätsbereich war umgehend alarmiert worden. Im ersten Moment sei noch unklar gewesen, welche Munition explodiert war, erklärt Rettungsärztin Dr. Frauke Jeremie. So hätten auch schwerste Verletzungen geschehen sein können, berichtet die Medizinerin. Am Ende sei es zum Glück beim Schock geblieben.

Den Gewässerschutz sichert zwar eine Aufbereitungsanlage ab, aber könnten die Gifte in Boden und Pflanzen im Falle eines Brands ausgebreitet werden? Da im Zuge des Klimawandels mit erhöhter Waldbrandgefahr gerechnet werden muss, habe sich auch die Berufsfeuerwehr der Bundeswehr auf die erhöhten Gefahren eingestellt, erklärt Enrico Klesse, Leiter der Wehr. Bei Waldbrandgefahr der vierten Stufe dürfte bereits nicht mehr mit Leuchtspurmunition geschossen werden. Ab Stufe 5 werde überhaupt nicht mehr geschossen. Zudem, so berichtet Friedrich-Wilhelm Otte von der Heidekreis-Fachgruppe Wasser, Boden, Abfall, hätten Pflanzen auf dem Dethlinger Teich keine nennenswerten Belastungen aufgewiesen. Den Gefahren durch das Verbrennen von Kampfmittelresten in der Natur werde aus fachlicher Sicht keine maßgebliche Bedeutung beigemessen, heißt es seitens der Gutachter.

Bereits 27 Flächen im Umfang von 268 Hektar saniert

Bislang sind seit 2007 auf diesem Wege 27 Flächen im Gesamtumfang von 268 Hektar saniert und zur Nutzung wieder freigegeben worden. Dabei wurden auch ein alter Hauptkampfstoffbunker zurückgebaut und mit rund 11 400 Kilogramm Arsen hochkontaminiserter Boden entsorgt. Aus dem Grundwasser wurden bislang 17 507 Kilogramm Schadstoffe eliminiert, darunter 7269 Kilogramm Arsen.

Der weitere Untersuchungs- und Bearbeitungsbedarf betrifft jetzt noch 49 Flächen in der Gesamtgröße von rund 1400 Hek- tar. „Ich gehe hier in den Ruhestand“, sieht Oberstabsfeldwebel Pascal Brüning, der die Sanierungsarbeiten koordiniert, angesichts dieser Dimension ein Ende nicht in Sicht.

Giftgase für den Krieg

Im Ersten Weltkrieg sollte die Einrichtung des Gasplatzes Breloh dazu beitragen, dass die Mittelmächte den Krieg gewinnen. Auf dem 1916 als Breloh-Lager eingerichteten 6500 Hektar großen Areal arbeiteten etwa 6000 Mann, um die Truppen an der Front mit Kampfstoffmunition zu versorgen. Hier wurden die verheerenden Giftgase entwickelt und Personal im Umgang mit den Stoffen geschult. 25 Prozent der deutschen Kampfstoffe kamen vom Gasplatz Breloh, der damit die größte und wichtigste Einrichtung dieser Art überhaupt war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde hier mit der Vernichtung der giftigen Munition begonnen. Die gesammelten Kampfstoffe sollten in der Nord- und Ostsee versenkt werden. Als am 24. Oktober 1919, 9.40 Uhr, das Klopper-Werk auf dem Gasplatz explodierte und 1000 Tonnen Kampfgas, rund eine Millionen Gasgranaten, eine Million Zünder und Kartuschen sowie 230 000 Minen und 40 Kesselwaggons mit unverhüllten Kampfstoffen in dem Explosionsinferno in die Luft flogen, wurde das gewaltige Areal und seine Umgebung verseucht. Das Gebiet, auf dem heute auch die Geka ihren Sitz hat und mit der fachgerechten Vernichtung von Weltkriegs-Altlasten beschäftigt ist, ist bis heute nicht vollständig saniert.

Bernhard Knapstein