„Bahnverkehr ermöglichen, nicht verhindern“
Wie weiter im Schienennetz zwischen Hamburg und Hannover? Vergangenen Montag warb Pro-Bahn-Landessprecher Malte Diehl für eine ICE-Neubaustrecke („Das Land schmollt und mauert“). Im heutigen BZ-Gespräch begründet Dr. Peter Dörsam, Sprecher des Projektbeirats Alpha-E und Bürgermeister der Samtgemeinde Tostedt, die Gegenposition.
Alpha-E widerspreche fachlicher Expertise und sei politischem Druck geschuldet, sagt der Pro-Bahn-Landesvorsitzende. Sie waren 2015 am Kompromiss beteiligt. Wie haben Sie das erlebt?
Dr. Peter Dörsam:
Nicht ansatzweise so. Ich weiß gar nicht, wo politischer Druck hergekommen sein sollte. Die ganze Darstellung ist hanebüchen. Unter uns kommunalen Teilnehmern war die Einschätzung 2015: Wir müssen beim Dialogforum Schiene-Nord mitmachen – rauskommen kann für uns aber eigentlich nichts. Es ging im Kern darum, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu bringen. Auch wenn man das Ziel richtig findet: Welcher Bürgermeister verkündet gerne, dass mehr Güterverkehr durch seine Kommune fahren soll? Das bringt für die Menschen mehr Lärm, und im Zweifel wird noch der Personennahverkehr blockiert. Beteiligt an den Gesprächen waren neben den Kommunen zahlreiche Vertreter der Bahn sowie aus Ministerien, Verbänden und Bürgerinitiativen. Zudem saßen Experten mit am Tisch. Die Bahn selbst betonte anschließend die fachlich gute Auseinandersetzung. Die Behauptung, Alpha-E sei ohne Expertise entstanden, zeugt von Unwissenheit. Dass die Bahn dem Kompromiss nur zugestimmt habe, um Bürgerinitiativen zu beruhigen, lässt sich leicht dahersagen. Das ist unbelegt und hat keine Substanz. Was die Bahn damals zugesicherte, ist die weitere Einbindung der Öffentlichkeit in den Gesamtprozess. Das findet leider immer weniger statt.
Wie sah die Arbeit im Dialogforum aus?
Der Bundesgutachter trug stundenlang vor, es gab immer wieder neue Aufträge und Untersuchungen. Auch wenn der Großteil der Teilnehmer nicht vom Fach gewesen ist, ging es trotzdem inhaltlich sehr tief rein in die Materie. Am Anfang stand die Aussage der Bahn, man brauche eine Neubaustrecke mit zwei Gleisen. Es folgten Erörterungen und Bewertungen verschiedener Varianten, schließlich der Kompromiss „Ausbau statt Neubau“. Zentral waren dabei auch die Ausführungen Ulrich Bischopings, des Bahn-Bevollmächtigten für Bremen und Niedersachsen, der auf vorhandene Kapazitäten und Ausbaumöglichkeiten auf allen drei relevanten Routen von Hamburg nach Süden hinwies. Auf Initiative der Bahn wurde im Abschlussdokument hinzugefügt, dass ein neuer Dialogprozess beginnt, sollte sich herausstellen, dass vorgesehene Kapazitätssteigerungen für die Verkehrsentwicklung nicht ausreichen. Orientiert ist Alpha-E an Prognosen im Bundesverkehrswegeplan 2030, die bereits von starken Zuwächsen im Passagier- und Güterverkehr ausgehen. Wichtig sind auch die Bedingungen der Region, insbesondere zusätzlicher Lärmschutz, sodass die Menschen trotz Mehrverkehren auf den Bestandsstrecken künftig weniger beeinträchtigt werden.
Alpha-E verteilt Güterverkehr nach Süden auf drei Routen
Genau. Die Westroute über Rotenburg-Verden ist noch ein eingleisiger Engpass, wird aber zweigleisig ausgebaut. Damit steigt die Kapazität deutlich, ein wichtiger Lückenschluss, auch das ein Teil von Alpha-E. Die Ostroute verläuft über Wittenberge und Stendal. Bayern erreichen Güterzüge über den Ostkorridor ebenso gut wie über das sehr volle hessische Netz. Man muss die drei Routen – West-, Ost- und Bestandsstrecke über Lüneburg-Uelzen – gemeinsam betrachten, auch bei den Verkehrsprognosen. In der Version des Vieregg-Rössler-Gutachtens von 2020 ermöglicht Alpha-E nach Ergebnissen des Bundesgutachters auf der Bestandsstrecke einen Kapazitätszuwachs im Güterverkehr von rund 80 Prozent gegenüber heute. Das ist schon viel, und auch die anderen beiden Strecken ermöglichen Zuwächse. Die Idee von Alpha-E war immer zu schauen, wo es im Netz ausbaubare Kapazitäten gibt.
Beim Personenverkehr gilt bundesweit der Deutschlandtakt, das erfordert die Fahrzeitverkürzung zwischen Hamburg und Hannover auf unter eine Stunde.
Das bestreite ich! Die aktuellen Vorgaben zum Deutschlandtakt stammen aus dem 3. Gutachterentwurf. Dort wurden erstmals die Neubaustrecken mit aufgenommen und somit sehr ambitionierte Zielzeiten aufgestellt. Der Deutschlandtakt ist ein einheitlicher Taktfahrplan, der das Umsteigen effizienter machen soll. Dafür sind an Bahnhöfen Null- oder Halbstunden-Knotenpunkte vorgesehen: Erst treffen zur vollen oder halben Stunde die Nahverkehrszüge, kurz darauf die Züge des Fernverkehrs ein. Diese halten möglichst nah beieinander und fahren als erstes, vor den Nahverkehrszügen, weiter. So die Grundidee. Hamburg ist aber nur ein Randknoten, das stündliche oder halbstündliche Knoten-System setzt sich von dort nach Norden nicht weiter fort. Der Hauptbahnhof hat keine ausreichenden Gleiskapazitäten, viele Züge nach Norden fahren ab Altona. Entsprechend freier ist man bei An- und Abfahrtzeiten am Hauptbahnhof.
Deutschlandtakt am Hamburger Hauptbahnhof: „Eine Fata-Morgana-Diskussion"
Für Hannover gilt das nicht.
Aber das ist kein Problem: Wenn ich von Hamburg 1.10 Stunden brauche, fahre ich zehn Minuten vor voll los und bin auf 0 in Hannover. Professor Wolfgang Hesse schlägt vor, die Null-Knotenpunkte in Hamburg statt auf den Hauptbahnhof auf Altona und Harburg zu legen. Alpha-E sieht das nicht vor, aber es wäre eine Möglichkeit. Bezogen auf den schon heute komplett überlasteten Hamburger Hauptbahnhof ist der Deutschlandtakt eine Fata-Morgana-Diskussion. Dort halten die Metronom-Züge mangels freier Gleise hintereinander und dürfen deshalb nur maximal sieben Waggons führen. Beim Ein- und Ausfahren entsteht schnell Chaos, ein riesiges Problem. Auch in vielen anderen Bahnhöfen sind wir meilenweit von Kapazitäten entfernt, die für den Deutschlandtakt notwendig wären. Aus dem Bundesverkehrsministerium stammt die Information, es müssten 150 Milliarden investiert werden, bevor der Deutschlandtakt funktionieren kann. Die Zahl hat Landesverkehrsminister Bernd Althusmann so weitergegeben. Mir selbst wurde diese Größenordnung bei einem Termin in Berlin bestätigt. Aktuell investieren wir pro Jahr 1,9 Milliarden Euro in neue Schieneninfrastruktur. Das soll mehr werden, aber bei einem Gesamtinvestitionsbedarf von 150 Milliarden kann man sich vorstellen, wie lange es noch dauert bis zum Deutschlandtakt. Insbesondere da dieser so gesetzt ist, dass kostenintensive Neubaustrecken zwingend wären. Das betrifft in Niedersachsen auch Hannover-Bielefeld. Ein weniger ambitioniertes Projekt zu deutlich geringeren Kosten, das vielleicht schon in zehn Jahren deutliche Taktvorteile einbringt, scheint mir klar vorzugswürdig.
Alpha-E besteht aus vielen Einzelmaßnahmen, droht da eine Endlosschleife, weil man der Entwicklung ständig hinterherbaut?
Ich sehe Einzelmaßnahmen als Vorteil: Ist ein Teilbereich fertig, treten unmittelbar Leistungsverbesserungen ein. Schritte werden zeitlich aufeinander abgestimmt. Erst kommt der Streckenausbau Rotenburg-Verden. Wenn da das zweite Gleis liegt, schafft das Entlastung für Baumaßnahmen auf anderen Strecken. Bei einer Neubaustrecke könnten sich Vorteile erst ergeben, wenn sie komplett fertig ist.
Wäre Alpha-E in der Summe denn preiswerter als die Neubaustrecke?
Nach Berechnungen der Bahn nicht. Verglichen etwa mit dem Vieregg-Rössler-Gutachten führt das Unternehmen viele zusätzliche Maßnahmen auf, zum Beispiel komplette Viergleisigkeit zwischen Celle und Uelzen und viel mehr Umbau im Bestand. So gelangt man zu exorbitanten Kosten. Nimmt man die tatsächlich gemachten Vorschläge, kommt man zu ganz anderen Ergebnissen. Ich gehe definitiv davon aus, dass Alpha-E deutlich günstiger wird als eine Neubaustrecke. Und das, obwohl das Konzept neben Blockverdichtungen und weiteren Maßnahmen durchaus auch den Neubau von Gleisen beinhaltet. Nicht nur das zweite Gleis auf der Strecke Rotenburg-Verden, auch ein drittes Gleis zwischen Lüneburg und Uelzen.
Der Widerstand gegen eine Neubaustrecke ist groß. Was treibt die Menschen an?
Das ist vielfältig. Ein ganz wichtiger Punkt ist die weitere Zerschneidung der Region. Das habe ich beim Bestandsstreckenausbau nicht.
Die Neubaustrecke soll entlang der A7 verlaufen, die zerteilt die Region bereits.
Verkehrswegebündelung wird das immer so schön genannt. Aber wenn man sich den ungefähr geplanten Streckenverlauf anschaut merkt man, dass das nicht gelingt. Nach meiner Schätzung würden nur 10 bis 20 Prozent der vorgesehenen Strecke parallel zur A7 verlaufen. Das hängt unter anderem mit den Kurvenradien zusammen. Je schneller Züge sind, je größer müssen diese Radien sein. Die Neubaustrecke soll auf wenigstens 250, eher 300 Stundenkilometer ausgelegt werden. Da kann ich der Autobahn bei engeren Kurvenradien gar nicht folgen. Echte Trassenbündelung wäre nur auf wenigen Abschnitten möglich. Evendorf im Landkreis Harburg hätte auf der einen Seite die Autobahn, auf der anderen die ICE-Trasse. Dass Orte beidseitig umfahren werden müssen, wird kein Einzelfall sein.
Was bewegt die Menschen noch?
Viele fragen sich erst einmal, was die Neubaustrecke für sie persönlich bedeutet. Da gibt es Sorgen, das ist nun einmal so. Als Sprecher des Projektbeirats sage ich: Wir wollen mehr Menschen und Güter auf die Schiene bringen, da kann man Neubaustrecken nicht grundsätzlich ablehnen. Es muss abgewogen werden. Aber genau so eine Abwägung fand im Dialogforum sehr transparent und tief statt. Die Veranstaltungen wurden live übertragen und sind online abrufbar, ebenso alle Dokumente. Viele Menschen, die das damals verfolgt haben, sind heute fassungslos.
„Drama für den gesamten norddeutschen Schienenverkehr"
Planungsrechtlich ist alles eine reine Bundesangelegenheit. Haben Sie als Vertreter der Kommunen das Gefühl, noch gehört zu werden?
Acht Kommunen sind im Projektbeirat vertreten, alle außer Lüneburg bekennen sich klar zu Alpha-E. Da stehen wir trotz unterschiedlicher Interessenlagen über die Region verteilt eng zusammen. Wir sind überzeugt, dass die aktuellen Planungen der Bahn die Potenziale der Bestandsstrecken nicht widerspiegeln. Auch der Umgang mit uns hat sich gewandelt. Mein Sprecherkollege Joachim Partzsch und ich hatten in Hamburg einen Termin mit der DB und teilten die Erwartung, dass uns endlich der aktuelle Planungsstand mitgeteilt wird. Das war nicht der Fall. Es gab überhaupt keine neuen Informationen.
Was glauben Sie, wie es nun weitergeht?
Ob Neubautrasse oder Alpha-E ist, glaube ich, noch offen. Am Ende entscheidet der Bundestag, ganz wichtig wird dabei die Position des Bundesverkehrsministeriums sein. Wir hatten vor rund vier Wochen ein Gespräch mit Michael Theurer, dem Schienenbeauftragten der Bundesregierung, und ich hatte den Eindruck, dass die vorgetragenen Punkte ihm zu Denken gegeben haben. Wir konnten glaube ich vermitteln, dass es uns darum geht, Bahnverkehr zu ermöglichen, nicht zu verhindern. Man wird ja, wenn man gegen ein Großprojekt ist, schnell in so eine Ecke gestellt. Meine Befürchtung ist, dass man mit den Planungen für eine Neubaustrecke weiter macht, ohne dass sie je realisiert wird. Da kann viel Zeit vertan werden, das haben wir bei der Y-Trasse alles schon einmal erlebt. Die bestand auf dem Papier 25 Jahre und hat in dieser Zeit andere Planungen, auch den Ausbau der Strecke Rotenburg-Verden, blockiert. Sollten nie verwirklichte ICE-Streckenneubaupläne andere Planungen ähnlich lange ausbremsen, wäre das ein Drama für den gesamten norddeutschen Schienenverkehr.