Pandemie beschleunigt Trend zum Übergewicht

Marion Drost und Sven Dittmer-Drost wollen Betroffene dazu ermutigen, sich nicht zu verstecken und Adipositas nicht als unabänderliches Schicksal hinzunehmen.

Deutschlands be- kanntester Virologe Christian Drosten sieht Anzeichen für ein baldiges Ende der Corona-Pandemie. Mit ihren Folgen wird die Gesellschaft aber noch lange zu kämpfen haben. Und zumindest auf einem Feld könnte es ein ziemlich auswegloser Kampf sein: beim Übergewicht.

Die Deutschen wurden schon vor der Pandemie im Durchschnitt immer dicker. Früh wurde befürchtet, dass die Pandemie diese Entwicklung weiter beschleunigt. Umfragen hatten ergeben, dass rund 35 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 70 Jahren während der Corona-Zeit zugelegt haben – im Schnitt um rund 6,5 Kilogramm. Ausgeblendet blieben Kinder und Jugendliche. Sie hat jetzt die Kaufmännische Krankenkasse Hannover (KKH) in den Fokus genommen – mit erschreckenden Befunden. Eine Datenanalyse ergibt, dass es bei den jungen Versicherten im Alter von 6 bis 18 Jahren zwischen dem Vor-Corona-Jahr 2019 und 2021 eine Zunahme der Adipositas-Fälle um rund elf Prozent gab. Besonders betroffen: 15- bis 18-jährige Jungen (19 Prozent mehr Adipositas-Diagnosen). „Homeschooling mit stundenlangem Sitzen vor dem PC, fehlender Sportunterricht, kaum Treffen mit Freunden, geschlossene Sportstätten – die Pandemie mit all ihren Kontaktbeschränkungen hat das Leben vieler Kinder und Jugendlicher lange Zeit aus dem Lot gebracht und Inaktivität ge- fördert“, sagt Dr. Aileen Könitz, Ärztin und KKH-Expertin für psychiatrische Fragen. „Das war ein Einfallstor für Ersatzhandlungen, um Frust, Stress und Einsamkeitsgefühle zu kompensieren.“ Oft bestanden diese im Griff in die Chipstüte und Daddeln am PC.

„Manche haben in der Coronazeit wirklich gelitten“, sagt Marion Drost und meint damit auch Erwachsene, insbesondere Alleinstehende. Vielen falle es zum Beispiel schwer, alleine Fernsehen zu schauen, ohne dabei etwas zu essen. Drost kennt viele solche Geschichten und weiß, wie schambesetzt es für Betroffene sein kann, darüber zu sprechen. Vergangenes Jahr rief sie in Munster die erste Adipositas-Selbsthilfegruppe im nördlichen Heidekreis ins Leben. Da hatte sie selbst bereits eine lange Leidensgeschichte hinter sich.

Im Winter fällt der Kampf gegen die Pfunde besonders schwer

Die Wintermonate stellen eine besondere Herausforderung dar. Völlerei im Dezember und vor dem Frühjahr eine schuldbewusste Diät, um den Winterspeck loszuwerden – so läuft es oft, ohne dass solche Konzepte nachhaltigen Erfolg versprechen. Inzwischen sind laut Robert-Koch-Institut rund zwei Drittel der Männer (67 Prozent) sowie gut die Hälfte aller Frauen (53 Prozent) in Deutschland übergewichtig.

Wer Marion Drost anschaut, käme nicht unbedingt auf die Idee, dass sie eine Adipositas-Selbsthilfegruppe leitet. Die 40-Jährige ist nicht dick. Doch das war mal anders. Damals, als sie bei einer Kör- pergröße von 1,57 Meter fast 100 Kilo auf die Waage brachte, Adipositas-Typ 3, die schwerste Form von Fettleibigkeit. „Ich habe jahrelang aus Scham in der Öffentlichkeit kein Eis gegessen und mich nicht getraut, in ein Fintnessstudio zu gehen.“

Geschichten von Menschen, die mal dick waren und es nicht mehr sind, gibt es viele. Oft sind es Heldenerzählungen von Umkehr und eiserner Willensstärke. Drost brauchte Hilfe und eine Operation, um ihren Kampf gegen die Pfunde zu gewinnen. Sie ist keine einsame Heldin. Als ihr 2020 im Adipositas-Zentrum Lüneburg klar wurde, dass sie es nicht ohne Magenbypass schaffen wird, bedrückte sie dieser Gedanke. „Ich fühlte mich wie eine Versagerin, habe beim ersten Termin geheult“, denkt Drost an diese Zeit zurück. Groß war ihre Angst vor den Reaktionen der Umwelt, dem stillschweigenden Vorwurf der Willensschwäche; der Unterstellung, den „einfachen Weg“ gegangen zu sein. Aus Scham sprach sie mit kaum jemanden über den operativen Eingriff.

Mit der Unterstützung ihres Mannes Sven realisierte sie, wie schädlich diese Art von Scham sein kann. Für die eigene Psyche ebenso wie für andere Betroffene. „Hätte meine Bekannte damals nicht so offen mit mir gesprochen, hätte ich vielleicht nie Kontakt zum Adipositas-Zentrum aufgenommen“, erzählt Drost.

Selbsthilfegruppe für Adipositas unterstützt Betroffene nicht nur beim Abnehmen

Drost rief im Sommer 2021 in Munster eine Adipositas-Selbsthilfegruppe ins Leben. Rund 16 Frauen und Männer im Alter zwischen Mitte 20 und Ende 60 treffen sich seitdem jeden dritten Dienstag im Monat um 19 Uhr im Bürgerhaus, um sich über Themen wie achtsames Essen, Abnehmmethoden und persönliche Erfahrungen auszutauschen. Die Gruppe ist per E-Mail an marion@adipositas-shg-munster.de kontakttierbar. Manchmal unternimmt man etwas gemeinsam – jedenfalls diejenigen,die den Mut dazu haben. Denn wenn die Gruppe im Dezember zum Beispiel einen Bowling-Ausflug unternehmen wird, ist es ganz selbstverständlich, dass manche Gruppenmitglieder aus Scham lieber zu Hause bleiben.

„Wir sind keine Abnehmgruppe“, stellt Sven Dittmer-Drost klar, dass es den Mitgliedern nicht primär um Diäten geht. Im Fokus stehen nachhaltige Verhaltens- und Ernährungsumstellungen sowie medizinische Behandlungsmöglichkeiten. Beides gehöre zusammen, berichtet Drost von ihren eigenen Erfahrungen. Denn der Magenbypass, den sie im Frühling 2020 erhielt, sei eben nicht der „einfache Weg“ zum mühelosen Gewichtsverlust, den manche argwöhnisch vermuten. Der Eingriff selbst sei zwar minimal-intensiv und dauere nur zwei Stunden. Doch das ist nur der erste Schritt. „Danach muss man wieder ganz neu essen lernen“, sagt Drost – erst sei nur Flüssigkeit möglich, dann Brei, dann feste Nahrung. Tabletten müssen eingenommen werden und auch psychisch ist einiges zu bewältigen.

Das stellt auch Angehörige vor Herausforderungen. Manche vormalige graue Maus entwickelt ganz neues Selbstvertrauen, daran sind schon Beziehungen zerbrochen. Und nachhaltiger Erfolg hängt auch bei einer Operation stark davon ab, dass Betroffene ihr Essverhalten bewusst reflektieren und auf genügend Bewegung achten. Drost hat es sich zur Aufgabe gemacht, Betroffene zu unterstützen – bald neben dem ehrenamtlichen Engagement in der Selbsthilfe wohl auch professionell: Sie hat ihren alten Beruf gekündigt und ein gesundheitspädagogisches Fernstudium begonnen.