„Als Soldat fühle ich Trauer, Wut und Hilflosigkeit“
Böhme-Zeitung: Herr Jacobson, Sie sind als Pensionär Vorsitzender des Vereins Bundeswehrfamilien in Munster. Was sagen Sie den Familien, den Männern und Frauen, die in Afghanistan ihr Leben riskiert haben, zu den aktuellen Entwicklungen?
Carsten Jacobson: Seit dem letzten Wochenende mischen sich unisono bei allen, die in Afghanistan gewesen sind, Trauer, Wut und Hilflosigkeit. Hilflosigkeit drückt sich darin aus, dass ich im Moment Anfragen von Bekannten und Freunden aus Afghanistan bekomme, ob ich helfen kann. Und ich kann nicht helfen.
Und die Wut?
Die Wut kommt auf, über das politische Versagen, dass zu der Situation geführt hat. Und als Soldat bin ich traurig, weil ich das Land lieben gelernt habe und weil ich die Menschen furchtbar gerne mag, viele Freunde dort habe. Jetzt höre ich die Verzweiflungsschreie, und das macht hilflos.
Fühlen die Soldaten sich nicht auch verraten, angesicht dieser Entwicklung, gegen die sie seit 20 Jahren gekämpft haben?
Als Soldat geht man dort hin und hat einen Auftrag. Und die meisten von uns sind wieder nach Hause gekommen und haben gesagt, Auftrag ausgeführt. Und das muss man so nehmen und sagen, das ist der Beruf.
Aber es gab auch ein Ziel, das mit dem Einsatz erreicht werden sollte?
Wir haben mit Masse daran geglaubt, gerade die in den höheren Funktionen. Und wenn ich in den letzten Tagen höre, dass der amerikanische Präsident Joe Biden sagt, dass Nation building (Formen einer gemeinsamen Gesellschaft und eines Staates, d.Red.) nie unser Ziel war, sondern nur der Antiterrorkampf, dann ist das ein Schlag ins Gesicht. Da ist eine Kaltschnäuzigkeit dabei, die tut weh. Ich habe unter vier amerikanischen Vier-Sterne-Generälen gedient. Die haben alle nichts anderes vorangebracht als Nation building.
Also dann doch.
Es gab aber grobe Fehler, weil die Amerikaner ständig ihre Strategien gewechselt haben. Vom einfach unterstützen bis hin zum Bilden eines afghanischen Staates nach dem Vorbild eines amerikanischen Staates. Aber das passt nicht auf Afghanistan, das ist eine andere Kultur, sind andere Menschen.
Beschreiben sie uns die Menschen.
Das kann man nur, wenn man lange dort war. Klar ist, dass die Afghanen eine andere Wertetabelle haben als wir. Und Afghanistan ist kein geschlossenes Land, so wie wir uns das vorstellen. Afghanistan ist eine Zusammensetzung aus verschiedenen Bereichen, in denen Menschen leben, die unterschiedliche Interesse haben.
Gibt es auch Gemeinsamkeiten?
Ja, drei. Was den Afghanen am meisten interessiert, ist die Familie. Das ist das Allerwichtigste. Und das erklärt auch, was jetzt passiert ist und was die Armee angeht. Der Schutz der Familie, weil sonst keiner da ist, ist das höchste Gut. Außerdem muss der Afghane reden dürfen, stundenlang beim Tee, auch wenn man das nach deutschen Maßstäben in fünf Minuten geklärt hätte. Das verstehen die Amerikaner oft nicht, weil sie ungeduldig sind.
Und die Deutschen?
Auch einige nicht. Aber es gibt auch eine ganze Menge Leute, die auf Teppichen gesessen und geredet haben.
Es war also nicht überraschend, dass die afghanische Armee nichts gegen die Taliban setzen konnte oder wollte?
Es ärgert mich, wenn Biden sagt, dass die Afghanen völlige Versager sind, weil sie nicht für ihr Land kämpfen wollen. Sie haben über Jahre tapfer gekämpft und gewaltige Verluste eingesteckt. Gleichwohl haben sie gesehen, hier wird etwas aufgebaut, bezahlt von und mit Rückhalt der Amerikaner natürlich. Das war durch den rasanten Abzug nicht mehr gegeben. Da stellt sich der Afghane nicht hin und lässt sich erschießen für irgendwas, und schon gar nicht für einen Präsidenten Ashraf Ghani, der außer Landes geht. Damit hatte man eine Situation: Entweder die Familie schützen oder sterben. Da frage ich Sie, welche Entscheidung hätten Sie getroffen?
Die dramatische Situation war abzusehen?
Ja, aber ich habe nicht geglaubt, dass es so schnell passiert, nur geahnt. Ich habe vor einem halben Jahr meiner Frau gesagt, vor Weihnachten werden wir hässliche Bilder sehen. Und wir werden sie sehen. BBC und CNN gehen irgendwann aus dem Land raus, und dann haben die Taliban freie Hand.
Sie glauben den Aussagen der Taliban nicht?
Ich glaube kein Wort. Und ich habe ein bedrückendes Gefühl, was Kandahar, Herat, Jalalabad, Masar-i-Sharif angeht, wo niemand hinguckt. Im Moment schauen alle auf Kabul. Da sitzt die Taliban-Führung und macht im Moment ein gutes Bild.
Was sich aber nicht bestätigen wird?
Afghanistan ist nicht erst seit 20 Jahren im Krieg. Afghanistan ist seit 1979 im Krieg. Die Russen haben gewütet. Ich sehe den größten strategischen Fehler, den der Westen gemacht hat, dass er die Afghanen nach dem Abzug der Russen alleingelassen hat.
Diesen Fehler macht man jetzt wieder?
Ja. Die Afghanen haben damit eine Situation, die schlimmer ist, als die in Europa nach dem 30-jährigen Krieg. Es gibt eine große Entvölkerung, Verluste an qualifizierten Menschen, eine verwildert aufgewachsene Jugend, die nichts anderes kennt als Krieg und Gewalt. Letztlich ist sich jeder selbst der nächste und muss sich um sich selber kümmern. Die Afghanen sind hochintelligent, aber sie haben keine Bildung. Das ist allerdings angelaufen seit 20 Jahren, um eines Tages eine funktionierende Verwaltung aufzubauen.
Aber dann kommt das Thema Korruption?
Ich habe von drei Sachen gesprochen, die den Afghanen wichtig sind: Schutz der Familien, das Recht zu Reden und das dritte ist Gerechtigkeit. Und die setzen sie auch durch, im Notfall mit Waffen. Korruption ist das Giftigste für die empfundene Gerechtigkeit. Das ist gleichzeitig die Attraktivität der Taliban. Die Taliban sind zwar steinzeitgerecht, aber sie sind absolut unbestechlich. Die Unbestechlichkeit birgt in sich eine Gerechtigkeit, die die Afghanen akzeptieren. Deshalb haben sie auf dem Land einen solchen Zulauf. Im Sommer sind die Bewohner brave Bauern. Nach der Ernte sind sie in den Bergen und sind Taliban.
Auch die Deutschen waren aktiv an der Ausbildung afghanischer Soldaten beteiligt.
Man braucht sieben Jahre, bis jemand eine Kompanie mit 100 Leuten führen kann, für ein Bataillon mit 1000 Soldaten braucht eine Führungskraft 15 Jahre. Ernsthaft haben wir mit der Ausbildung vor zehn Jahren angefangen. Aber bei jährlichen Verlustraten von 20 Prozent, kann man in fünf Jahren wieder von vorn anfangen. Ich will damit sagen, die Soldaten sind keine Feiglinge.
Was wäre sinnvoll gewesen?
Wir sind ja gar nicht gefragt worden, selbst der englische Premier Boris Johnson nicht. Die Amerikaner sind einfach gegangen. Es wäre aber nicht nötig gewesen, eine hohe Truppenzahl zu halten, das Kämpfen haben die Afghanen gemacht. Aber die Logistik, die Anleitung zum Aufbau, das Geld das nötig ist und das hinter den Amerikanern stehende Arsenal an Luftwaffe – das hätte auf niedrigem Niveau gereicht, um Nation building weiter zu betreiben. Und eine Verwaltung aufzubauen, die tragfähige Strukturen hat, das dauert tatsächlich 40 Jahre.
Wohin wollen jetzt die Taliban?
Die wollen zurück in einen islamistischen Staat, in dem die Scharia das oberste Gesetz ist. Es ist ein unbestechlicher Staat, aber einer, der sich nicht entwickeln wird.
Was sagen Sie zur aktuellen Kritik an der Bundesregierung, die als ahnungslos dargestellt wird?
Sehen Sie, wenn ein Boris Johnson, der von sich immer behauptet, besondere Beziehungen zu den Amerikanern zu haben, jetzt im Parlament sagen muss, im hätte keiner etwas gesagt, dann spricht das Bände. Dass mit Angela Merkel keiner geredet hat, ist dann klar. Eingeleitet worden ist die Entwicklung durch Donald Trump, weil er ohne Einbindung der Regierung mit den Taliban gesprochen und auf vage Zusagen den Rückzug angekündigt hat.
Aber hätte man die Ortskräfte nicht früher evakuieren können?
Man hätte sich das Verfahren überlegen sollen, wie man sie rauskriegt. Dann wäre es immer noch schwierig gewesen. In dem Moment wo ich sage, jetzt evakuiere ich, habe ich aufgegeben. Wie viele Menschenleben man da hätte retten können, weiß ich nicht. Aber was immer geht, um so viele wie möglich rauszukriegen, sollte man tun. Man nimmt damit Afghanistan natürlich einen Teil seiner Intelligenz. Das interessiert die Taliban wenig, aber irgendwann berauscht vom Erfolg müssen sie ein Land regieren und dann werden wir sehen, wie das läuft. Ich fürchte, es wird nicht gut laufen.
Dennoch, in 20 Jahren ist einiges geschafft worden in Sachen Bildung und Stärkung der Frauenrechte. Haben Sie nicht ein bisschen Hoffnung?
Wenn es sie denn gibt, ist es, dass die Taliban verstanden haben, dass eine gebildete Bevölkerung und eine gesetzte Administration besser ist als wildes vor sich hinwurschteln. Das hört sich im Moment so an. Und dann ist da ein Funken Hoffnung. An dem islamischen Staat und der Scharia kommen wir nicht vorbei.
Wie wird es künftig mit Auslandseinsätzen weitergehen?
Die Amerikaner haben mehr als 20 Jahre gebraucht, um über Vietnam hinwegzukommen, das wird mit Afghanistan ähnlich sein. Und wer glaubt uns jetzt noch, wenn wir sagen, wir kommen helfen, wenn es jedes Mal so ausgeht und man am Ende mit heruntergelassener Hose da steht. Der Verlust der Glaubwürdigkeit des Westen, in den die Chinesen und die Russen gnadenlos reinstoße, ist ein gewaltiger Schaden. Jetzt haben wir einen moralischen Schaden, weil wir aus diesem Einsatz rausgehen, als westliche Gemeinschaft, weil wir Versprechen gemacht haben, die wir nicht halten. Das wird sich rächen, weil wir unsere Werte verraten haben.
Generalleutnant a.D. Carsten Jacobson – Ein Afghanistan-Kenner
In seiner Militärlaufbahn war Generalleutnant a.D. Carsten Jacobson, 66, der in Munster lebt, unter anderem von 1997 bis 1998 im Bosnien und Herzegowina im Einsatz, übernahm 2005 das Kommando über die Panzerlehrbrigade 9 der Örtzestadt. In Afghanistan war Jacobson von 2011 bis 2012 in der Funktion des ISAF-Sprechers. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er 2014 Divisionskommandeur der 1. Panzerdivision. Er kehrte erneut nach Afghanistan zurück, um dort den Posten des stellvertretenden Kommandeurs der ISAF zu übernehmen. Verbunden war damit eine Beförderung zum Generalleutnant. 2015 war er schließlich stellvertretender Kommandeur der Anschlussmission Resolute Support in Afghanistan. Danach wurde er stellvertretender Inspekteur des Heeres. Jacobson wohnt in Munster und engagiert sich in vielen Bereichen ehrenamtlich. at