Der Wald kann viel mehr als Holz liefern

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Gut 32 Prozent der deutschen Staatsfläche ist „mit Forstpflanzen bestockt“ und damit „Wald“ im Sinne des Bundeswaldgesetzes. Unter den Nachbarstaaten haben nur Österreich, Luxemburg und Tschechien mehr zu bieten. Niedersachsen gehört mit gut 25 Prozent Waldfläche nicht zu den waldreichsten deutschen Bundesländern. Der Heidekreis liegt mit 31 Prozent Wald aber deutlich über dem Landesdurchschnitt.

Der Wald gehört nicht zum touristischen Markenkern des Heidekreises

Verglichen mit den berühmten Heideflächen, den weiten Geestlandschaften, den mystisch wirkenden Mooren und vogelreichen Flussgebieten des Aller-Leine-Tals wirkt der Wald eher banal. Er zählt nicht unbedingt zum touristischen Markenkern des Heidekreises. Es handelt sich größtenteils um mit Nadelhölzern aufgeforstete Flächen, vom ursprünglichen Laubmischwald ist kaum noch etwas vorhanden. Mehr Kulturlandschaft als Urwald, auch wenn einige ursprüngliche Bewohner wie Wölfe und Wildkatzen, die stark mit Wildnis und unberührter Natur assoziiert werden, inzwischen zurückgekehrt sind.

Die Bedeutung des Waldes ist unbestritten. Laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft leben in Deutschland mehr als eine Million Menschen direkt oder mittelbar vom Wald. „Nachhaltige Forstwirtschaft wurde vor 300 Jahren in Deutschland erfunden“, heißt es stolz auf der Internetseite des Ministeriums. Holz ist ein wichtiger Rohstoff und Energieträger. Die wirtschaftliche Nutzung ist aber nur ein Aspekt des Waldes. Andere Funktionen sind ebenfalls wichtig, aber schwerer zu fassen.

Der deutsche Wald: Sehnsuchtsort und gefährlicher Raum

Dabei spielten sie in der Kulturgeschichte der Deutschen und ihrer Vorfahren immer eine wichtige Rolle. Schon in mittelalterlichen Epen wird der Wald poetisch überhöht, als Sehnsuchtsort und gefährlicher Raum, einsames Versteck für Liebende ebenso wie Räuberbanden. Im dichten Wald besiegten die Germanen die römischen Legionen, suchten später die Romantiker zwischen Eichenlaub und hohen Tannen den Kern der deutschen Seele zu ergründen. Solche verklärten Waldbilder mögen heute wie aus der Zeit gefallen wirken, ganz weit weg vom modernen, urban geprägten Leben. Wahr ist aber auch: Der Wald als Quelle der Erholung, als Ausgleich zum Stress des menschlichen Miteinanders, der Arbeitswelt und der Familie, hat gerade Konjunktur.

Während der Corona-Lockdowns konnte man sich auf wenig verlassen, selbst Parks und Spielplätze waren zeitweise gesperrt. In Schneverdigen wurde das bei Ausflüglern beliebte Pietzmoor abgeriegelt, die Wildtiere im Serengeti-Park in Hodenhagen waren ebenso unerreichbar wie der Weltvogelpark Walsrode. Nur auf den Wald war in dieser Krisenzeit Verlass. Er hatte durchgehend geöffnet, und Abstände einzuhalten war dort immer schon die leichteste Übung.

Mehr Waldbesucher durch Corona

Überall in Deutschland stiegen 2020 die Zahlen der Waldbesucher, Umfragen und wissenschaftliche Erhebungen belegen den augenscheinlichen Trend, über den viel berichtet wurde. Zum Beispiel eine Befragung unter Bewohnern der Stadt Freiburg durch die Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg im Frühjahr 2020, an der sich mehr als 700 Personen teilnahmen. Ergebnis: Fast zwei Drittel (61,8 Prozent) der Umfrageteilnehmer gaben an, häufiger oder wesentlich häufiger in den Wald zu gehen als vor der Pandemie. Gefragt wurde auch nach den Motiven. Wenig über- raschend gaben fast alle Befragten an, es ginge ihnen irgendwie darum, etwas für die Gesundheit zu tun und sich sportlich fit zu halten. Aber 91 Prozent nannten noch einen anderen Antrieb für den Gang ins Grüne: Es ginge ihnen um die „Bewältigung psychischer Belastungen“.

Dass der Wald helfen könne, psychisch gesund zu bleiben oder zu werden, scheint mithin eine in der Bevölkerung durchaus populäre Annahme zu sein. Aber stimmt das auch? Oder beginnt hier die Esoterik, erhält die Verklärung und Überhöhung des deutschen Waldes, wie man sie aus der Romantik kennt, plötzlich Einzug in die Gegenwart? Der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder musste sich viel Spott gefallen lassen, nachdem er vor Kameras einen Baum umarmt hatte.

Japanisches Konzept: Waldbaden erobert den Heidekreis

Bewusster in die Natur gehen, Bäume anfassen und in Wäldern „baden“ ist jedenfalls beileibe keine deutsche Marotte, im Gegenteil: Deutschland entdeckt erst jetzt, was in Südkorea und vor allem Japan seit Jahrzehnten praktiziert und auch wissenschaftlich erforscht wird. Japan – im Westen das Sinnbild für Disziplin, eng besiedelte Städte und Stress – hat noch ein anderes, weniger bekanntes, ein grünes Gesicht. 68,5 Prozent der Staatsfläche besteht aus Wald, und die Japaner verstehen ihn zu nutzen. Es gibt regelrechte Heilwälder, Ärzte verschreiben psychisch angeschlagenen Patienten Aufenthalte dort. „Shirin Yoku“ heißt jenes umfangreich erforschte Konzept der Psycho-Stärkung unter Baumkronen, das in Deutschland als „Waldbaden“ kopiert wird. „Wir brauchen die Natur, wir können im geschlossenen Raum gar nicht wirklich existieren oder wir existieren, aber wir leben nicht richtig“, sagt Susanne Greupner, die an der Volkshochschule Heidekreis einen Kurs zum Waldbaden anbietet, im Interview der Mittwochsausgabe der Böhme-Zeitung.

Ob sich die Idee vom Waldbaden ohne weiteres aus japanischen Pinienwäldern in deutsche Nadelforste übertragen lässt, ob hinter ihr ein eher kulturelles oder doch biologisches Konzept steht, solche Fragen werden inzwischen auch in Deutschland ernsthaft erforscht. In einer Studienauswertung im Auftrag des Bäderverbands Mecklenburg-Vorpommern kamen Forscherinnen der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität 2013 zu dem Ergebnis, dass der Aufenthalt in Wäldern verschiedene positive Effekte auf die Gesundheit und das menschliche Wohlbefinden hat. Verschiedene Wirkmechanismen seien wissenschaftlich nachgewiesen, biologische ebenso wie psychische. Aufgeführt wer- den unter anderen das gedämpfte Licht im Wald, der runtergefahrene Aktivitäts- und Lärmpegel, die gelenkschonende Bodenbeschaffenheit, das Waldklima und der Waldgeruch, der für viele Menschen mit Kindheitserinnerungen verbunden sei.

Heilwirkung des Waldes ist mehr als ein Mythos

„Die aufgeführten Studien geben deutliche Hinweise auf gesundheitsfördernde Einflüsse des Waldbadens beziehungsweise durch den Aufenthalt im Wald“, resümiert die Studienauswertung, in die auch koreanische und japanische Arbeiten eingeflossen sind. „Eine positive Beeinflussung von Gefühlen, Stressreduktion, psychische Stabilisierung und einen grundsätzlichen Erholungseffekt sowie eine dadurch verbesserte Schlafqualität kann man als gesichert ansehen.“