Armut: Corona vertieft die soziale Spaltung
Bei Annette Krämer war es ein schwerer Verkehrsunfall. „Von jetzt auf gleich alles anders“, sagt sie. In der Mitte ihrer Biografie gibt es einen Riss. Bis zu diesem einen Tag vor 23 Jahren schien sie sicher im deutschen Mittelstand verankert zu sein, Festanstellung als Abteilungsleiterin, eine gesunde Frau ohne finanzielle Sorgen. Danach: eine Überlebende. Beinamputiert und dauerhaft arbeitsunfähig.
„Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt“
Sie wäre wohl, zusätzlich zur körperlichen Behinderung und allen anderen Folgen, die ein so schwerer Schicksalsschlag unweigerlich nach sich zieht, auch noch zum Sozialfall geworden. Das blieb Krämer erspart, weil ihr Mann zu ihr hielt. „Ich bin in eine Armutsfalle geraten, der ich allein nicht hätte ent- kommen können“, gibt sie sich keinen Illusionen hin. Das Paar verkaufte sein Haus in Hodenhagen, das nicht mehr zum neuen Leben passte, und baute neu, diesmal in Ahlden und barrierefrei. „Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt“, resümiert Krämer. Verbittert klingt die 63-Jährige nicht. Eher abgeklärt und auch kämpferisch.
Krämer ist längst zu einer Expertin in Fragen der sozialen Ab- sicherung geworden. Ausgehend von ihrem eigenen Fall hat sie sich mit den Löchern im sozialen Netz beschäftigt. Krämer hat Forderungen an die Politik und einen Rat an ihre Mitmenschen: Kenne Deinen Armutsschatten. Hinter dem Slogan verbirgt sich eine Kampagne des SoVD, des mitgliederstärksten Sozialverbands in Deutschland. Mit der Wortschöpfung „Armutsschatten“ möchte dessen niedersächsischer Landesverband insbesondere junge Menschen dazu anregen, sich mit ihrer individuellen Armutsgefährdung auseinanderzusetzen. „Je früher Menschen das erkennen, desto eher können sie dagegen etwas unter- nehmen“, sagt SoVD-Landessprecherin Stefanie Jäkel.
Zusammen mit den SoVD-Kreisvorsitzenden Jürgen Hestermann und Christa Jantzen sowie weiteren Mitstreitern warb Krämer bereits im Oktober 2020, noch vor dem offiziellen Aktionsstart in Hannover, auf dem Schneverdinger Wochenmarkt für die neue Kampagne des traditionsrei- chen Sozialverbands. Es war der erste Aufschlag in ganz Deutschland. In diesem Frühling wollen sich die Landesverbände Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein der Kampagne anschließen. Die coronabedingten Einschränkungen machen die Kampagnenarbeit nicht leichter. Zugleich gewinnt sie in Zeiten wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit an Relevanz.
Rechtzeitige Aufklärung über soziale Risiken und Lücken im Versorgungsnetz kann Menschen davor bewahren, arglos in Armutsfallen zu tappen. Hätte Krämer zum Beispiel schon in jungen Jahren et- was von der „Armutsfalle Erwerbsminderungsrente“ geahnt, wer weiß, vielleicht hätte sie privat vorgesorgt. Denn dann hätte sie gewusst, dass derjenige, der durch Krankheit oder Behinderung arbeitsunfähig wird, vom Sozialstaat wenig zu erwarten hat. In Deutschland beziehen laut den Zahlen der Deutschen Rentenversicherung knapp 1,8 Millionen Menschen eine Erwerbsminderungsrente. Deren durchschnittliche Höhe liegt bei beschämenden 740 Euro. Auf dieses Niveau können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fallen, unverschuldet und vom einen Tag auf den anderen.
Sich privat gegen dieses soziale Absturzrisiko zu versichern, erfordert große Umsicht in einer Lebensphase, in der der Gedanke an körperliche oder psychische Einschränkungen für die meisten Menschen ganz fern liegt. Denn nur wer noch jung und gesund ist, kann auf bezahlbare Tarife hoffen.
„Frauen sind besonders armutsgefährdet“
Wie groß das Armutsrisiko eines Menschen ist, hängt auch immer noch vom Geschlecht ab. Dieses Thema bewegt Krämer stark. Sie ist eines von rund 8000 SoVD-Mitgliedern im Kreisverband und bekleidet dort nicht von ungefähr das Ehrenamt der Frauensprecherin. „Frauen sind besonders armutsgefährdet“, sagt sie. Denn ungeachtet aller Gleichstellungsdebatten leisten Frauen wie selbstverständlich immer noch die meiste unbezahlte Care-Arbeit. Kindererziehung, Haushalt, Angehöri- genpflege, solche Sachen. Sie arbeiten oft in schlecht bezahlten Branchen, in Teilzeitjobs, haben rentenmindernde Lücken in ihren Erwerbsbiografien, geraten schnell in wirtschaftliche Abhän- gigkeit vom besser verdienenden Partner. In solchen Konstellationen werden Trennungen und Scheidungen leicht zu einer Armutsfalle. Insbesondere dann, wenn ein oder mehrere Kinder da sind.
Das eigene Armutsrisiko wird oft unterschätzt
Viele Menschen unterschätzen oder verdrängen ihre individuelle Armutsgefährdung. In den wirtschaftlichen Boomjahren vor der Pandemie, in denen die Arbeitslosigkeit sank und die Löhne stiegen, klappte das besonders gut. Doch nun dürfte das unangenehme Thema Armut wieder verstärkt ins Bewusstsein drängen. „Die soziale Ungleichheit nimmt zu“, heißt es im druckfrischen Datenreport 2021 über ungleiche Lebensbedingungen und die Folgen von Corona, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Bundesinstitut für Bevölkerungsentwicklung. Und die Autorinnen und Autoren des ebenfalls in diesen Tagen publizierten Entwurfs des sechsten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung warnen davor, dass die Corona-Pandemie das Risiko in sich berge, „die bestehende Ungleichheit mittel- oder sogar langfristig zu erhöhen“.
Die soziale Mobilität hat abgenommen
Fast jeder sechste Bundesbürger lebt laut Datenreport 2021 inzwischen unterhalb der sogenannten Armutsrisikoschwelle, die etwa für einen Singlehaushalt bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 1155 Euro liegt. 44 Prozent der Menschen, die mit so wenig Geld auskommen müssen, seien von dauerhafter, verfestigter Armut bedroht. Dieser Wert hat sich im Vergleich zu 1998 mehr als verdoppelt. Die soziale Mobilität hat demzufolge abgenommen.
Wer einmal unten angekommen ist, kann sich immer seltener noch einmal hocharbeiten. Im schlimmsten Fall bleibt die Armut und überträgt sich sogar von einer Generation auf die nächste. Die Datenauswertung benennt auch die Gruppen, die in Deutschland dem höchsten Armutsrisiko ausgesetzt sind: Alleinerziehende, Menschen mit Hauptschulabschluss oder ohne Berufsabschluss sowie Migranten.
Erste Anzeichen für eine Verschlechterung der sozialen Lage lassen sich auch im Heidekreis ausmachen. Die Munsteraner Tafel verzeichnet seit Beginn der Pandemie einen fast 50-prozentigen Zuwachs an Bedarfsgemeinschaften, die ihre Lebensmittelhilfe für Bedürftige in Anspruch nehmen. Und aktuelle Zahlen des Jobcenters Heidekreis zeigen, dass es in allen Nordkreis-Kommunen Menschen gibt, deren Kurzarbeitsgeld nicht zum Leben ausreicht, sodass sie mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen.