„Sie wollen ihm in die Augen schauen“
Am frühen Morgen des 16. Mai wurden in Bispingen eine 35-jährige alleinerziehende Mutter und ihre Kinder Lilly Marie (11) und Luca (4) ermordet. Die juristische Aufarbeitung des Verbrechens, das bundesweit Entsetzen auslöste, beginnt am Dienstag vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Lüneburg. Angeklagt ist Maurice G., ein ursprünglich aus Bremen stammender Mann, der zuletzt in einer Obdachlosenunterkunft in Schneverdingen lebte. Die Anklage wirft dem 35-Jährigen neben dreifachem Mord weitere im Zuge der Tatbegehung begangene schwerste Delikte vor. Im Falle der Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. Dass der Strafprozess, für den bislang zwölf Verhandlungstage terminiert sind, trotz fehlendem Geständnis und fehlender Tatzeugen bereits am Dienstag beginnen kann, sei vor allem das Ergebnis einer guten Spurenlage, sagt Strafverteidiger Frank Speer. „Die Polizei vor Ort hat gute Arbeit geleistet.“
Speer vertritt als Vertreter der Nebenklage den Vater von Lilly Marie. Der Vater von Luca sowie die Mutter der getöten Frau und Großmutter der toten Kinder treten ebenfalls als Nebenkläger auf. Anwaltlich vertreten werden sie von Uta Petschull beziehungsweise Martina Habermann.
Grausige Details zur Bluttat
Der Prozess wird belastend sein, es geht um grausige Details. Die Opfer wurden stranguliert, das Mädchen vor ihrem Tod missbraucht und vergewaltigt. Zum Prozessauftakt und zur Urteilsverkündung wollen die Nebenkläger der Hauptverhandlung auf jedem Fall beiwohnen. Wenn sie zwischendurch Prozesstage auslassen, weil die Verhandlung sie zu sehr belastet, sind ihre Anwälte anwesend und können ihre Rechte wahren. Das sei einer der Vorteile der Nebenklage, erklären die Soltauer Juristen: Opfer können über ihre Anwesenheit jeweils entscheiden und brauchen im Falle ihres Fernbleibens kein schlechtes Gefühl zu haben. „Sagen zu können ‚Wir haben alles getan‘, ist für meine Mandantin sehr wichtig“, sagt Habermann, die Fachanwältin für Familienrecht ist.
Generell gehe es allen drei Nebenklägern darum, aus der rein passiven Rolle herauszutreten. Bei einem Mord sei weniger die Beerdigung der letzte Akt, nach dem die Verarbeitung und die Trauer wirklich beginnen kann – es sei die Verurteilung des Täters und die Aufklärung der Tat, so Strafrechts-Fachanwältin Petschull. Das lasse sich mit einer schweren Krankheit vergleichen: Der Patient will wissen, was er hat – auch wenn es ein schlimmer Befund ist. Für ihren Mandanten sei es belastend gewesen, seinen Sohn zu beerdigen, ohne zu wissen, wie genau er gestorben ist, so Petschull. Die Nebenklage ermöglicht den Blick in die Strafakte und auch Fragen an den Angeklagten. Falls Maurice G. sprechen wird. Bislang schweigt er.
Mordprozess als Medienspektakel
Der Prozess zum Dreifachmord ist auch ein Medienspektakel. Die Nachfrage nach Presseplätzen übersteigt das coronabedingt reduzierte Sitzplatzangebot im Gerichtssaal bei weitem. Die zur Verfügung stehenden Plätze werden verlost. Veröffentlichungen in Funk und Fernsehen, in Zeitungen und im Internet stellen für Opfer aufsehenerregender Straftaten ein schwieriges Thema dar, mit dem sie umgehen müssen. Manche Formulierung in den Medien sei schwierig für sie, erklärt das Soltauer Anwaltsteam der Nebenklage. So werde der Angeklagte stets als „Lebensgefährte“ der getöteten 35-Jährigen bezeichnet – was fast zwangsläufig die Frage aufwirft, ob die Familie die mutmaßliche Gefährlichkeit des Mannes denn nicht habe erkennen können.
Tatsächlich war die Beziehung aber noch ganz frisch, das spätere Mordopfer und Maurice G. kannten sich zum Tatzeitpunkt erst wenige Wochen. Von der erheblichen einschlägigen Vorstrafe des Angeklagten wusste wohl niemand etwas.
Die drei Nebenkläger werden den Angeklagten am Dienstag im Gerichtssaal das erste Mal überhaupt zu Gesicht bekommen. Ein für sie gewiss schmerzhafter, zugleich sehr wichtiger Moment. „Sie wollen ihm unbedingt in die Augen schauen“, sagt Petschull.
Die Nebenkläger halten Maurice G. für gefährlich und angesichts des von der Staatsanwaltschaft rekonstruierten mehrstufigen, sehr kontrollierten Tatablaufs auch für voll schuldfähig. Im Falle einer Verurteilung wegen Mordes hoffen sie auf die zusätzliche Feststellung der besonderen Schwere der Schuld sowie spätere Sicherungsverwahrung.
Die Anwälte der Nebenklage werden zum Prozessende ihre Plädoyers halten, genauso wie der Celler Strafverteidiger des Angeklagten und die Staatsanwaltschaft. Dass die Strafforderung und Sachverhaltswürdigung ihrer Rechtsbeistände gleichwertig neben denen der anderen Prozessbeteiligten stehen wird, dürfte für die Angehörigen einen weiteren Anreiz für die Nebenklage bilden.