Niemals vergessen: Wie das Versprechen gelingen kann
Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs scheint die Forschung die Geschichte des Nationalsozialismus vollständig ausgeleuchtet zu haben. Insbesondere das große Verbrechen im Zentrum, den millionenfachen Mord. Der Holocaust wurde lange verdrängt, verharmlost oder abgestritten. Am Ende nahm das Land seine Schuld an. „Nie wieder Auschwitz“ wurde Teil der deutschen Staatsräson. Ein Versprechen an die Welt.
Doch inzwischen sitzen wieder Politiker in Parlamenten, die von „Schuldkult“ sprechen und der Nazizeit als „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte. Verblasst die Erinnerung an die Schrecken der Nazizeit? Die junge Generation hat keine Großeltern mehr, die von der finsteren Zeit erzählen könnten. Ist der Holocaust für sie nur noch ein geschichtliches Ereignis unter vielen?
Züge als fahrende Todeslager
Es nieselt und ist kalt. Vier Männer stehen in angemessener Corona-Distanz nahe den Gleisen beieinander und reden über das Jahrhundertverbrechen. Jedenfalls einen winzigen Zipfel davon: Am Schneverdinger Bahnhof, dort, wo sie nun stehen, spielten sich zum Ende des Zweiten Weltkriegs schreckliche Szenen ab. Die großen Arbeits- und Vernichtungslager im Osten waren befreit, doch die Gefangenen waren es nicht. Sie sollten den Alliierten nicht lebend in die Hände fallen, lautete der Befehl. Die ausgemergelten Menschen wurden auf Todesmärsche geschickt oder in überfüllten Güterwaggons ziellos durch die noch unter deutscher Herrschaft stehenden Reichsgebiete gefahren. Viele starben in den Waggons oder wurden an den Bahngleisen erschossen. Die Züge waren fahrende Todeslager.
Im Chaos des sich auflösenden Dritten Reiches strandeten solche Waggons im Frühjahr 1945 auch in Schneverdingen. Gruben wurden ausgehoben, Leichen eilig verscharrt. Als britische Truppen Ende April in Schneverdingen einrückten, fanden sie verschlossene Waggons mit aufgepinselten Davidsternen vor, Überreste verbrannter Kleidung, Leichen. Sie sorgten dafür, dass in einem Massengrab am Gleis vergrabene Tote umgebettet wurden und auf dem Friedhof eine würdige Begräbnisstätte erhielten. Ein Gedenkkreuz erinnert dort an diese namenlose Opfer des Rassenwahns.
„Beschäftigung mit dem Holocaust strahlt auf alle Schulfächer aus"
Die Geschichte der KZ-Züge auf der Heidebahn ist in einem Buch dokumentiert („Nur Gott der Herr kennt ihre Namen“). Einer der Autoren, Adolf Staack, gehört zu den Männern, die jetzt, mehr als sieben Jahrzehnte später, am Bahnhof stehen. Der Pensionär, ehemals Leiter des Realschulzweigs der KGS Schneverdingen, ist von anderen Pädagogen umgeben. KGS-Lehrer Erwin Kreie ist für die AG „Gedenkmal“ gekommen, seine Kollegen Oliver Ippich und Thomas Sandkühler als Fachkonferenzleiter Geschichte beziehungsweise Fachbereichsleiter Gesellschaft. Die Beschäftigung mit dem Holocaust „strahlt auf alle Fächer aus“, sagt Ippich.
Behandelt wird der Nationalsozialismus in allen Schulen, so schreibt es der Lehrplan vor. Die KGS hat sich aber vor Jahren auf den Weg gemacht, ergänzend zum großen Rahmen die lokale Holocaust-Geschichte in den Blick zu nehmen. Auslöser seien rechtsextreme Umtriebe im Ort gewesen, denkt Staack an die frühesten Anfänge zurück. Vor gut zehn Jahren rückte die rechte Gruppierung „Snevern Jungs“ die Heideblütenstadt in ein trübes Licht. Als Reaktion gründete sich 2008 das Bürgerbündnis „Bunt statt Braun“. In diesen Zusammenhängen entstand 2011 die Idee, im Ort sichtbar an den Holocaust zu erinnern. Schülerinnen und Schüler aus zwei Kunst-Leistungskursen der KGS setzten sich damit auseinander, wie Denkmäler im öffentlichen Raum Wirkung entfalten. Schließlich wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Eine fachkundig besetzte Kommission wählte aus 26 von Schülern vorgelegten Denkmalentwürfen eines aus.
Das fertige Denkmal nach dem Entwurf von Tamara Deuter wurde 2019 eingeweiht. Es steht an der Stelle, an der sich im Frühjahr 1945 das eilig ausgehobene Massengrab befand. Sein Betonkubus symbolisiert einen Eisenbahnwaggon, die Nägel im Inneren stehen für die KZ-Häftlinge. Erläuterungen erzählen von den schrecklichen Vorkommnissen 1945 an diesem heute so freundlich wirkenden Heideort.
Denkmal als Lernort für die Jugend der Stadt
Vor diesem Mahnmal stehen die Männer. Manchmal kommen sie mit Schülergruppen her, derzeit ist das wegen Corona nicht möglich. Auch am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar muss auf eine Veranstaltung verzichtet werden. Still einen Kranz ablegen, mehr ist nicht drin. Künftig will die Stadt, will die KGS hier den Holocaust-Gedenktag begehen und damit eine neue Tradition begründen. Dafür gibt es kein fertiges Konzept in der Schublade. „Es geht voran, es wächst langsam“, sagt Sandkühler. KGS-Schüler werden Akzente setzen, Ideen einbringen. Es ist nicht zuletzt ihr Denkmal. Ein „Lernort“, so Bürgermeisterin Meike Moog-Steffens.
Derzeit werden Erklärtexte im Fremdsprachenunterricht der KGS übersetzt. Besucher können sich dann über einen QR-Code auf den Info-Tafeln eine für sie verständliche Version auswählen. Und dann ist da noch die Idee, die letzten in Schneverdingen lebenden Zeitzeugen zu befragen, ihre Berichte für die Nachwelt aufzuzeichnen. Corona hat das erst einmal vereitelt, vielleicht kann es noch nachgeholt werden. Selbst wenn nicht: Vergessen wird die finstere Zeit des Holocaust in Schneverdingen so schnell nicht. Sie hat ihren Platz gefunden im Gedächtnis der Stadt. Wie eine alte Wunde, die vernarbt, ohne zu verschwinden.